Über Boxen
älteren Bruder, mit denen er offenbar freundschaftlich, aber nicht besonders innig verbunden ist. Wenn er in seine alte Umgebung zurückkehrt, dann als unübersehbarer, überdimensionaler Gast, als Held, als boy champion , als fleischgewordenes Titelbild von «Sports Illustrated». Wie Joe Louis, Sugar Ray Robinson, Larry Holmes und andere ist Mike Tyson zu einem Musterbeispiel dafür geworden, dass ein Jugendlicher aus dem Getto Erfolg haben kann, obwohl er seinen Verhaltenskodex und sein bemerkenswertes Selbstbewusstsein nicht dem Getto verdankt. Er wird von Weißen trainiert und gemanagt und ist in ungewöhnlichem Ausmaß von Weißen umgeben, und obwohl man ihn nicht als einen «Schwarzen des weißen Mannes» bezeichnen kann, ist er ganz bestimmt auch kein «Schwarzer des schwarzen Mannes» im Sinne von beispielsweise Muhammad Ali. (Dessen Besuch in Tysons Grammar School in Brooklyn hatte diesen im Alter von zehn Jahren mächtig beeindruckt.) Man könnte sogar sagen, dass Mike Tyson als erster Schwergewichtsboxer in Amerika die Rassenfrage hinter sich lassen wird – je nach Standpunkt eine löbliche oder beunruhigende Leistung. (In diesem Lichte besehen, hätte der angedachte Kampf zwischen Tyson und der eifrig hochgepuschten «weißen Hoffnung» Gerry Cooney interessante Auswirkungen: Die Sympathien würden wahrscheinlich nicht an den äußerlichen Rassenschranken haltmachen.)
Er werde tun, was er könne, um die Schwarzen zu unterstützen, sagt Tyson, aber er habe nicht vor, sich in die Politik einzumischen. Er werde Schulen besuchen, öffentlich auftreten und für Antidrogenkampagnen des FBI und des Staates New York werben. Auf Fragen nach dem schwarzen Bewusstsein, dessen Literatur, Kunst und Geschichte, antwortet er ziemlich vage, aber offen gestanden antwortet er auf die meisten Fragen, die mit Kultur im weiteren Sinne zu tun haben, nur vage. Tyson hat die Catskill High School im letzten Schuljahr abgebrochen – «Ich fand es dort schrecklich!» –, um sich unter der Anleitung von D’Amato auf das Amateurboxen in den Clubs und auf Golden-Gloves -Turniere zu konzentrieren, und damit war seine schulische Ausbildung, soweit sie überhaupt stattgefunden hatte, offenbar beendet. Er hat nahezu kein Interesse an Musik: «Ich könnte auch ohne Musik leben.» Fragen nach Kunst, Tanz und Literatur tut er achselzuckend ab, seine Lektüre beschränkt sich auf Bücher und Zeitschriften zum Thema Boxen. Ihm steht Jim Jacobs’ Bibliothek mit sechsundzwanzigtausend Boxkampfvideos zur Verfügung, und er sieht sich alte Kämpfe mit einer geradezu wissenschaftlichen Leidenschaft an. Ist das nicht ungewöhnlich für einen Praktiker? Jim Jacobs bejaht. Zur Unterhaltung schaut Tyson Karatefilme an, Horrorfilme und manchmal auch Zeichentrickfilme für Kinder, keine tiefschürfenden Dramen und keine Filme über fiktive Boxer. So bleibt es mir erspart, ihm die obligate Frage nach den lächerlichen Rocky-Filmen zu stellen.
Aus alledem darf man nicht schließen, dass Mike Tyson unintelligent oder geistig beschränkt ist. Im Gegenteil, ich spüre an ihm den instinktiv haushälterischen Umgang des Wunderkinds mit sich selbst. Er wagt es nicht, seiner Fantasie in Bereichen, die mit der Entwicklung seines Talents nur am Rande zu tun haben, freien Lauf zu lassen. Da er ein ungewöhnlich sensibler Mensch ist – sensibel auch in Bezug auf die Gefühle anderer, nicht nur auf die eigenen –, möchte er nicht gezwungen werden, sich in Gefühlen oder Gedanken zu verlieren, es sei denn natürlich, ihm ist selbst danach. Das Wissen um die tragische Zwiespältigkeit des Lebens, das einem die ernsthafte Kunst vermittelt − die von Henry James im Vorwort zu «Maisie»geäußerte Auffassung , dass vor allem jene Themen höchst menschlich seien, «die uns in der Wirrsal des Lebens den engen Zusammenhang von Glück und Leid zeigen, von dem, was guttut, und dem, was wehtut, und so vor unseren Augen ständig jene blanke, harte Medaille mit ihrer seltsamen Legierung baumeln lassen, deren eine Seite des einen Recht und Wohlergehen ist und deren andere Seite eines anderen Leid und Unrecht» –, wäre eine Katastrophe für einen martialischen Boxer. Als Alexis Arguello, der große Champion im Federgewicht, Junior-Leichtgewicht und Leichtgewicht, gegen den Champion im Leichtgewicht und Weltergewicht Roberto Durán antrat und ihm seine Hand entgegenstreckte, soll Durán zurückgeschreckt sein und gerufen haben: «Weg da! Bist du verrückt? Ich
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