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Über Boxen

Über Boxen

Titel: Über Boxen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Carol Oates
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Trapezkünstlerfamilie der Presse, keiner von ihnen habe die Absicht aufzuhören. «Es geht im Leben einzig und allein darum, die Zeit zwischen den Auftritten hinter sich zu bringen.»
    So denkt auch der Boxer, der auf den Kampf versessen ist, der Mann, dessen Identität so eng mit dem Ring verbunden ist, dass er außerhalb davon für die Öffentlichkeit eigentlich gar keine Identität hat. Seine kreative Arbeit findet nur im Ring statt und nur zu bestimmten, festgelegten Zeiten. Auf Video aufgenommen, wird sie dauerhaft; sie wird zu ihm selbst – oder zu dem, was die Nachwelt von ihm wissen wird.
    Mike Tysons außerordentlich steile Karriere – achtundzwanzig Profikämpfe in achtzehn Monaten – ist das Ergebnis einer geradezu mönchisch strengen Disziplin und Konzentration. Jetzt, da er ein gefeierter Titelträger und kein hungriger junger Herausforderer mehr ist, hat sich Tysons Selbstwahrnehmung unwiderruflich verändert; obwohl er die Schwergewichtstitel noch nicht vereinigt hat – dazu muss er für den WBA -Titel «Bonecrusher» Smith schlagen und für den IBF -Titel den wendigen Michael Spinks –, wird er schon jetzt als Weltmeister im Schwergewicht bezeichnet und nennt sich in Augenblicken der Begeisterung auch selbst so. Er hat seine Zeitgenossen weit hinter sich gelassen – die neue, junge Boxergeneration mit den Olympiasiegern Tyrell Biggs, Mark Breland, Paul Gonzales, Meldrick Taylor und Pernell Whittaker; als Erster von ihnen hat er nicht nur einen Titel errungen, sondern auch enormen Erfolg in der Öffentlichkeit. «Als Kind wollte ich berühmt werden, ich wollte jemand sein», sagt Mike Tyson. «Und wenn jetzt einer mit Boxen berühmt wird, dann ist es doch schön, wenn ich das bin.» Der Ruhm und der Lohn des Ruhms sind im wahrsten Sinn des Wortes eine Gegenwelt zum Training des Boxers. Sie repräsentieren all das, was er im Dienst seiner wirklichen Karriere, die der öffentlichen zuwiderläuft, verdrängen muss. Wenn sich ein Boxer zurückzieht, so hauptsächlich wegen des furchtbar harten Trainings, nicht weil er Gefahr läuft, besiegt, verletzt oder sogar im Ring getötet zu werden. (Am härtesten soll Rocky Marciano trainiert haben, der sich normalerweise mehr als zwei Monate auf einen Kampf vorbereitet hat. Als er sich im Alter von dreiunddreißig Jahren ungeschlagen zurückzog, tat er dies, weil die Leiden des Trainingslagers die Freuden des Ruhms allmählich überwogen. «Kein Geld der Welt bringt mich noch einmal in den Ring», sagte Marciano.) Das existenzielle Erlebnis des Kampfes selbst – spektakulär, in alle Welt ausgestrahlt, minutiös aufgezeichnet – ist nicht nur das Ziel und der Höhepunkt des fürchterlichen Trainings, sondern auch der Moment der Erfüllung, in dem der Boxer zeigt, was er kann. Neben diesem körperlichen Sichverausgaben, neben diesem Kern dessen, worum es wirklich geht (Tyson nennt das gern «mein Können gegen das meines Gegners ausspielen»), erscheint vermutlich das übrige Leben in einem schwer einzuschätzenden Licht. Das Leben außerhalb des Rings ist zwar real, aber ist es wirklich real? Nicht der öffentliche Auftritt als solcher, sondern die körperliche Lust, Finesse und Ausdauer bis zum Äußersten zu treiben, liefert das Motiv für solche physischen Kunststücke wie Titelkämpfe oder Trapeznummern. Der Schauspieler wird letztlich durch das Schauspiel selbst belohnt, er wird süchtig nach seinem eigenen Adrenalin. (Wer würde das nicht?) Es geht im Leben einzig und allein darum, die Zeit zwischen den Auftritten hinter sich zu bringen.
    Da Mike Tyson ein junger Mann mit einem hoch entwickelten Sinn für Ironie ist – um nicht zu sagen für das Absurde –, kann es seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, dass er an öffentlichen Orten wie dem teuren Restaurant in der Innenstadt, wo wir alle nach dem Interview zum Essen hingehen, oder zwei Wochen später auf dem Empfang in einer Privatsuite im Madison Square Garden vor dem Ausscheidungskampf Witherspoon gegen Smith wahrscheinlich der einzige Schwarze unter den Anwesenden ist. Ebenso ist er wahrscheinlich der jüngste und der einzige Mann ohne Anzug und Krawatte. Vor allem aber ist er wahrscheinlich der einzige mit einem Goldzahn und einem selbst gemachten Tattoo («Mike» auf dem rechten Bizeps) und der einzige, der noch vor wenigen Jahren so rabiat und wild war («Ich wurde manchmal zum Berserker»), dass er gewaltsam gebändigt werden musste. Doch als ich beim Empfang im Garden mit

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