Über Boxen
Pyramide an der Basis demokratisch breit erscheinen mag, an der Spitze aber grausam schmal ist, hat man schon versagt, wenn man nicht ganz großartig ist. Ein Boxchampion, der von einem Gegner getroffen wird – schwer getroffen –, begreift in kürzester Zeit, weniger, als es braucht, um diesen Satz zu lesen, dass seine Karriere ruiniert ist. Boxen darf nicht als Metapher für das Leben verstanden werden, aber seine raschen, manchmal nicht mehr gutzumachenden Schicksalswenden gleichen absolut denen des Lebens, und gerade der Schlag, den wir nicht kommen sehen – im Ring immer der K.-o.-Schlag –, entscheidet über unsere Zukunft. Die dunkle Faszination des Boxens rührt nicht nur daher, dass wir es mit triumphalen Siegen verbinden, sondern auch mit Niederlagen und dem tapferen Ertragen der Niederlage. Zwei Männer steigen in den Ring, und symbolisch gesprochen kommt nur einer wieder heraus.
Nach dem Kampf gegen Berbick erzählte Tyson den Reportern, er habe Berbick das Trommelfell zerstören wollen. «Ich versuche, die Nasenspitze meines Gegners zu treffen», wurde er im Februar 1986 nach seinem Kampf gegen den glücklosen Jesse Ferguson zitiert, dem die Nase gebrochen wurde, «ich will ihm das Nasenbein ins Gehirn treiben.» Tysons Sprache ist ebenso direkt und brutal wie sein Boxstil und doch seltsam entwaffnend, wie schon oft festgestellt wurde. Seine Worte haben nichts Drohendes, Sadistisches oder Prahlerisches, er sagt nur die Wahrheit. Und damit macht Mike Tyson eindrucksvoller als die meisten Boxer das Paradoxon im Wesen dieses umstrittenen Sports sichtbar. Er spricht leise, ist höflich, feinfühlig, erkennbar nachdenklich, intelligent und introspektiv; und dennoch ist er gleichzeitig – oder fast gleichzeitig – ein «Killer» im Ring. Er ist einer der liebevollsten Menschen und gleichzeitig – oder fast gleichzeitig – eine Maschine zur Erzeugung vernichtender Schläge. Wie ist das möglich?, fragt man sich. Und warum? Das Boxen beweist überdeutlich die düstere Tatsache, dass ein und dasselbe Individuum sowohl durch und durch zivilisiert als auch barbarisch sein kann, je nachdem, unter welchen Umständen es sich zeigt. «Ich bin ein Boxer», sagt Tyson. «Ich bin ein Kämpfer. Ich mache meine Arbeit.» Mord als Straftat kommt im Ring nicht vor. Jeder Gegner, der sich auf einen Kampf mit einem Mann von Tysons ungewöhnlichen Kräften einlässt, muss wissen, was er tut, und jeder Boxer hat die gleiche Chance, wie Tyson glaubt. Er spielt sein Können gegen das des Gegners aus.
Die Bibelstellen, gegen die im Geiste angeboxt wird, haben zu tun mit dem Schutz des menschlichen Lebens, einem heiligen Bild vom Leben. «Du sollst nicht töten» (oder verstümmeln, verwunden, Leid verursachen) und « Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! » 5 , das sind die beiden unausgesprochenen Befehle, gegen die sich das Schauspiel entfaltet und aus denen es seine Energien bezieht. Die Befehle werden für die Dauer des «Spiels» verweigert, verdrängt oder ausgeschlachtet. Boxen ist alles andere als primitiv, es ist vielleicht der am stärksten regulierte und ritualisierte Sport, dermaßen von Regeln, Bräuchen und stillschweigend aufrechterhaltenen Traditionen bestimmt, dass eine einzigartige, wenn auch irritierende Verwandtschaft mit den extremen menschlichen Emotionen sichtbar wird: mit Wut, Verzweiflung, Schrecken, Grausamkeit, Ekstase. Wie schon gesagt, ist es eine Kunst, in der der menschliche Körper selbst das Instrument ist; sein Verhältnis zur ungebremsten Gewalt ist das einer musikalischen Komposition zu bloßem Lärm. Zwischen Bach und aleatorischer «Musik» mag eine Verwandtschaft bestehen, aber diese Gemeinsamkeit ist bei beiden wohl kaum das Wichtigste.
Doch was, fragt man sich, ist der Sinn einer so extremen Kunst? Kann sie einen Sinn haben? Warum widmen sich ihr ein paar Männer so hingebungsvoll, und warum schauen andere ihnen zu, starren hingerissen und fasziniert darauf und zahlen viel Geld dafür?
Wallace Stevens’ Erkenntnis, dass der Tod des Satans eine Tragödie für die Fantasie sei, 6 gilt nicht für das merkwürdige ästhetische Phänomen des Profiboxens. Im erhöhten, grell beleuchteten Boxring stehen sich Männer wie Spiegelbilder eins zu eins gegenüber, um in sich und ihren Zuschauern Energien wachzurufen, die nach den Regeln des normalen – oder meine ich nichtkämpferischen? – Lebens als teuflisch gelten. Inmitten der
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