Über Boxen
verzückten Menge, die Mike Tyson anfeuert, überkommt einen das Gefühl, der siegreiche Boxer sei der zu Christus umgemodelte Satan. Doch schon vor dem Kampf, noch ehe Tyson den Ring betrat, waren die Zuschauer völlig von ihm besessen. (So wie sie – allerdings gleichmäßiger verteilt – von Marvin Hagler und Thomas Hearns bei deren Kampf im April 1985 besessen waren; die Menge kreischte auf, als die beiden erschienen, und war kaum zu bremsen, als der Kampf nach acht sehr langen Minuten abgebrochen wurde. Der Rausch geht dem Handlungsimpuls voraus und weckt ihn vielleicht sogar erst.) Für viele ist Mike Tyson der jüngste in einer Reihe athletischer Helden – der Überbringer unausgeformter, unbeschreiblicher Emotionen, eine Art schweißüberströmter, kampfbereiter Erlöser. Aber schließlich sind die meisten Erlöser, die heiligen und die weltlichen, durch ein nachdenkliches «eine Art» eingeschränkt. Auf jeden Fall ist jetzt Tyson dran. Eine schreckliche Schönheit ist geboren.
Außer Boxen ist alles langweilig.
Mike Tyson
Las Vegas, Nevada, 7. März 1987. In einem Ring, der vom vorausgegangenen verzweifelten Kampf zweier Schwergewichtler noch blutbefleckt ist, fordert Mike Tyson, Champion des World Boxing Council und mit zwanzig Jahren der jüngste Titelträger in der Boxgeschichte, James «Bonecrusher» Smith, den Champion der World Boxing Association, zum Kampf heraus, um die beiden Titel zu vereinigen. Smith ist mit dreiunddreißig schon ein alternder Athlet und zudem der einzige Schwergewichtstitelträger mit Collegeabschluss – aber das nützt ihm nichts. Er klammert, er duckt sich weg, taucht ab, klammert wieder, umarmt seinen frustrierten und zunehmend wütenden Gegner, wie ein Ertrinkender alles, was schwimmt, umarmt. In den zwölf langen Runden dieses endlosen Kampfes ruft Ringrichter Mills Lane immer wieder «Break!» , aber Smith scheint nicht zu hören, und wenn doch, so gehorcht er nicht. Die meiste Zeit ist sein Gesichtsausdruck leer, es ist die Leere der Angst, einer panischen, unmäßigen, hemmungslosen Angst, die mit anzusehen man gleichwohl Hemmungen hat. «Box!», schreit die Menge. «Tu was!» Smiths Boxerkollegen auf den Ringplätzen neben mir, der frühere WBC -Schwergewichtschampion Trevor Berbick und WBA -Leichtgewichtschampion Edwin Rosario, lassen sich besonders laut vernehmen, als litten sie professionelle Höllenqualen. Denn es sieht so aus, als sei Smith, der noch vor drei Monaten im Madison Square Garden gut vorbereitet eine dramatische Glanzleistung erbracht und Tim Witherspoon in der ersten Runde von dessen WBA -Titelverteidigungskampf k . o. geschlagen hat, jetzt pl ötzlich kein Boxer mehr. Obwohl er in diesem erhöhten, grell beleuchteten Ring einem anderen Mann gegenübersteht und sich für eine Million Dollar verpflichtet hat, vor etwa 1 3 600 Zuschauern im neu erbauten Freiluftstadion des Hilton und vor wer weiß wie vielen Millionen Fernsehzuschauern gegen ihn zu kämpfen, kann oder will er nicht kämpfen. Ihn treibt nur noch der Instinkt zu überleben, zwölf Runden durchzustehen ohne schlimmere Verletzungen als ein blutendes linkes Auge und eine dicke Schwellung an der rechten Wange, um dann, beruflich am Ende, zu Frau und Familie heimzukehren und Pläne für seine Zukunft in Magnolia, North Carolina, zu schmieden. («Als Champion stehen einem viele Türen offen – ich hätte gern eine Konzession als Immobilienmakler, aber ich könnte auch Versicherungen verkaufen.»)
Berbick im Klappstuhl neben mir krümmt sich, murrt, lacht spöttisch, ist fast so frustriert wie Mike Tyson und eindeutig verärgert – schließlich ist er der Mann, der im letzten November hier gegen Tyson gekämpft und in der dritten Minute der zweiten Runde so spektakulär (und demütigend!) gegen ihn verloren hat. Auch er hatte versucht zu klammern, hatte den jungen Mann am Arm und an den Handschuhen gepackt und versucht ihn zurückzuhalten, ihn zu einem langsameren Tempo zu zwingen, ihn zu behindern, aber Berbick hatte auch gekämpft oder immerhin den lahmen Versuch dazu unternommen. «Ich wollte meine Männlichkeit beweisen», sagte er später kleinlaut, «das war ein Fehler.» In diesem Kampf steht Smiths Männlichkeit augenscheinlich nicht zur Debatte. Bei ihm gibt es keinen Machismo, den er vorführen oder verteidigen könnte. Wenn der sich einen Boxer nennen darf, so nur in Ermangelung eines passenderen Begriffs. Minute folgt auf Minute, Runde auf zermürbende Runde, während
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