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Über Boxen

Über Boxen

Titel: Über Boxen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Carol Oates
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Übernatürliches. Als Nächstes kommt der schwere Sandsack. Rooney umwickelt Tysons Hände mit weißen Bandagen, Tyson zieht die Handschuhe an, schlägt mit der Linken gegen den Sack, und als der zurückschwingt, prügelt er ihn mit verschiedenen Kombinationen. Rooney steht daneben, und nach jedem Schlaghagel besprechen sich die beiden, auch wenn der schwere Sack noch heimtückisch um sie herumschwingt. Während Tyson seine Haken schlägt, verlagert er sein Gewicht federnd und außerordentlich beweglich von einem Fuß auf den anderen – sein Rumpf bleibt gleichsam an Ort und Stelle, während er mit leicht gespreizten Beinen hin und her hüpft und dadurch aus einer jeweils stabilen Position heraus Schläge setzen kann. Unbegreiflich, dass ein menschliches Wesen, ja überhaupt irgendein Geschöpf aus Fleisch, Knochen und Blut Schläge von so beängstigender Vehemenz verkraften kann.
    Rooney ist bereit, es zu versuchen, zumindest eine Weile. Er trägt gepolsterte Handschuhe bis über die Unterarme, und die beiden wandern weiter zur «Maisbirne». Tyson pendelt hin und her, um den auf den Kopf gezielten Schlägen seines unsichtbaren Gegners auszuweichen. Als Letztes die «Schlagbirne». Im unscharfen, verwirrenden Ablauf eines Kampfes wird nicht so schnell klar wie im Studio, dass Tysons relativ geringe Körpergröße (er gilt als kleiner Schwergewichtler) ihm eher zum Vorteil gereicht. Die meisten seiner Gegner sind größer als er, wenn auch nicht unbedingt schwerer, sodass sie gezwungen sind, nach unten zu schlagen, wobei sie nur ihre Schultern- und Armmuskeln einsetzen, während Tyson, der nach oben schlägt, neben den Schultern- und Armmuskeln auch die Beinmuskeln nutzen kann, und die sind gewaltig. Wenn er sich duckt, kann er sich noch kleiner und wendiger machen. (Jim Jacobs hat mir erklärt: «Man spricht immer von einem Größenvorteil, aber in Wirklichkeit handelt es sich um einen Größennachteil. Wenn ein Boxer gut ist und kleiner als sein Gegner, liegt der Vorteil bei ihm und nicht bei seinem Gegner. Dasselbe trifft auch auf den sogenannten Reichweitenvorteil zu. Ein Boxer hat nur dann einen Reichweitenvorteil, wenn er seinem Gegner überlegen ist.») Aber das Merkwürdigste, Verblüffendste an Tysons Boxstil ist tatsächlich sein Tempo, sein unglaubliches Tempo. Wie bringt er das nur fertig? Bei seinem Gewicht und seinem Körperbau? Und wird er das in den kommenden Jahren durchhalten können?
    «Essen, schlafen und trainieren», sagt Kevin Rooney. «Mike trainiert gern.»
    Aber mehrmals sagt Tyson mit seiner leisen, fast unhörbaren Stimme: «Ich bin müde.» (Er wird immer noch fotografiert.) In seinem schwarzen Trikot, das Handtuch in der Hand, ist er buchstäblich in Schweiß gebadet, er sondert Schweiß ab wie andere Tränen. Man merkt, wie viel leichter ihm ein Kampf fallen muss als das Programm, das Rooney ihm verordnet hat. Viele von Tysons Kämpfen haben keine fünf Minuten gedauert, und er hat gegen Gegner gekämpft, die nicht einmal fähig waren, ihm eine Beule zu schlagen oder seinen Atem zu beschleunigen. Und dieses Training ist erst der Anfang, am 3. Februar fährt er nach Las Vegas zu einem vierwöchigen «Intensivtraining».
    Er duscht, zieht sich an, erscheint wieder in Jeans, einer weißen, tunikaähnlichen Jacke, einer schicken Tweedmütze und glänzend weißen Gucci-Sportschuhen – sicher den einzigen ihrer Art in Catskill. Als wir in einer Ecke des Rings zusammen fotografiert werden, flüstert er mir anklagend ins Ohr, wie viele Stunden vor Kameras er allein heute hat ertragen müssen: «Das können Sie sich nicht vorstellen! Immer und immer wieder!» Das am besten gehütete Geheimnis des Ruhms, seine nervtötende Langeweile, hinterlässt erste Spuren bei Mike Tyson.
    Catskill, New York, ist eine kleine Stadt mit knapp sechstausend Einwohnern. Die gepflegten alten Häuser vermitteln jenes amerikanische Vorkriegsflair, das manche Leute so rührt – es ist pure architektonische Nostalgie. Zum Beispiel die Hauptstraße mit Newberry’s Five-and-Dime, Joe’s Food Market, Purina Chows, dem Rathaus, der Ladenfront gegenüber der Polizeiwache und den örtlichen Ämtern − Sekretariat, Kämmerei und Steuerbehörde − im selben Gebäude wie der Catskill Boxing Club. Parken kostet hier fünf Cent die Stunde.
    Mike Tyson wohnt zwei, drei Meilen weiter draußen in einem der größten und schönsten Häuser der Stadt, dem Haus von Mrs Camille Ewald, Cus D’Amatos Schwägerin. Es steht am

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