Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Über Boxen

Über Boxen

Titel: Über Boxen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Carol Oates
Vom Netzwerk:
Tyson versucht, an ihn ranzukommen, um seine berühmten Kombinationssalven abzufeuern, aber Smith fällt über ihn her und umklammert ihn unbeholfen, trotzig und verzweifelt. Aufgebracht bestraft Mills Lane Smith in der zweiten und achten Runde mit Punktabzug. («Ich hätte ihm nach jeder Runde einen Punkt abziehen können», sagt er später, «aber in einem Titelkampf macht man das nicht gern.») Der 1,92 Meter große, 105 Kilogramm schwere Smith ist an diesem Abend ein Zombie, die Parodie eines Boxers, der die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze, Sitten und Gebräuche, die das Boxen gleichzeitig zum primitivsten wie raffiniertesten Kontaktsport machen, so hartnäckig ignoriert, dass es fast schon wieder faszinierend ist.
    «Ich war nicht darauf vorbereitet, wie stark und wie schnell Tyson ist», wird Smith nach dem Kampf sagen. «Tyson hat einen verheerenden linken Haken.» Und zu seiner Verteidigung: «Ich habe getan, was ich konnte.» Von den derzeitigen Schwergewichtlern ist Smith ausnahmslos der wankelmütigste, unberechenbarste. Unter Druck imstande, gut zu boxen, ist er doch merkwürdig (und auf unprofessionelle Weise) anfällig für Capricen und Launen. Vielleicht weil er keine wirkliche Berufung zum Boxer verspürt und nur so viel Kampfinstinkt besitzt, wie man von einem Mann mit einem Bachelor in Betriebswirtschaft (Shaw College, North Carolina) erwarten darf, lässt er sich im Ring leicht entmutigen, lässt zu, dass sich auf seinem Gesicht kindlich unbefangen Triumph, Schmerz, Bestürzung und tiefstes Elend abzeichnen, was bei Boxern selten ist. Er boxt eben so, wie ein intelligenter Mann boxt, dessen Intelligenz seine einzige Waffe ist in einem Kampf, in dem «Intelligenz» sich etwas Elementarerem unterordnen muss. Er kann nicht auf Reserven zurückgreifen, die tiefer liegen als das Bewusstsein – auf Energie, Fantasie, Emotion.
    Tyson wiederum ist, anders als Dempsey, Marciano und Frazier, jene für ihre Angriffslust berühmten Kämpfer, mit denen er oft verglichen wird, kein leichtsinniger Boxer; er ist nicht wie andere bereit, vier oder fünf Schläge einzustecken, um selbst einen Treffer zu landen. Sein Training zielt auf Verteidigung und Vorsicht – daher die Peek-a-boo -Deckung 7 , ein Markenzeichen von Cus D’Amato. Ist Boxen nicht vor allem die Kunst der Selbstverteidigung? Den anderen zu schlagen und Punkte einzustreichen, ohne selbst geschlagen zu werden? Zwei Jahre lang – es müssen sehr lange Jahre gewesen seien – brachte D’Amato Tyson bei, zu pendeln und den Schlägen von Sparringspartnern auszuweichen, ohne selbst mit einem einzigen Schlag zu kontern – ein Training, das Tyson zu einer Ausnahmeerscheinung im Ring gemacht hat. Er ist bekannt für seine Kraft, Geschwindigkeit und Angriffslust, doch sein Verteidigungsgeschick ist ebenso bemerkenswert, wenn auch weniger dramatisch. Konfrontiert mit einem Gegner wie «Bonecrusher» Smith, der gegen die guten Sitten im Ring verstößt, indem er einfach nicht kämpft, weiß Tyson nicht mehr weiter; in pubertärem Frust schlägt er nach dem Mann, als schon der Gong ertönt ist, er beschimpft ihn während des Kampfes, schneidet höhnische Fratzen, stößt ihn, schubst ihn und attackiert während eines Clinchs die Wunde über Smiths Auge – Relikte aus seiner Zeit auf den Straßen von Brooklyn (als Zehnjähriger war Tyson eines der jüngsten Mitglieder einer berühmt-berüchtigten Gang namens The Jolly Stompers ), die durch das Boxtraining eigentlich schon hätten überwunden sein müssen. Mit einem Wort, hier zeigt sich, wie unerfahren er ist.
    So wird das Muster dieses Kampfes gleich zu Anfang festgelegt: In den zwölf Runden geschieht praktisch nichts, was nicht schon in den ersten dreißig Sekunden der ersten Runde geschehen wäre. Auch der Zuschauer wird von einer Lähmung ergriffen, von der widernatürlichen Erwartung, dass entgegen aller Erwartung doch noch etwas geschieht. Wenn dies Theater ist – und Boxen ist immer Theater –, befinden wir uns in der hinterhältigen, irreführenden Gegenwelt von Jarry, Ionesco und Beckett; die Ästhetik kommt aus fanatischem Überdruss wie bei John Cage und Andy Warhol. 8 Während meine Kollegen von der Presse den Kampf unisono als langweilig bezeichnen («Zwei Inneneinrichter hätten einander mehr Schaden zugefügt», so die «Los Angeles Times»), finde ich ihn ungewöhnlich spannungsvoll und strapaziös, nicht unähnlich der ersten Begegnung zwischen Spinks und Holmes, als

Weitere Kostenlose Bücher