Über Boxen
einem anderen Gast darüber rede, sieht mich der Mann an, als hätte ich etwas nicht nur Bizarres, sondern auch Widerwärtiges gesagt. «Ich bezweifle, dass Mike in diesen Kategorien denkt», sagt er. Aber dass Tyson der einzige Schwarze in dieser Ansammlung von wohlsituierten Weißen ist, sieht man doch, das ist einfach eine Tatsache, oder? Nein, werde ich belehrt: «Mike Tyson denkt nicht in diesen Kategorien.»
Nach einer kurzen Ansprache des Herrn, der den Madison Square Garden betreibt, bekommt Tyson feierlich ein Geschenk überreicht, einen gläsernen Briefbeschwerer in Form eines Apfels, ein Symbol für die Stadt New York. Er wird fotografiert, lächelt freundlich, bedankt sich für den Briefbeschwerer, steht da und schaut ihn ein Weilchen verträumt an. Als ich ihn später frage, wie ihm das gefällt, eine Berühmtheit zu sein, wo er doch berühmt werden wollte, da sagt er: «Es ist schon okay.» Und dann: «Die meiste Zeit macht mich so was verrückt.» Ich stelle fest, dass er gelernt hat, für Fotografen nett zu lächeln, und er antwortet mit der brutalen Parodie eines Starlächelns, einer Totenkopfgrimasse, grimmig, witzig, selbstironisch und originell.
Vier Wochen später – er wird noch immer fotografiert, diesmal für zwei Zeitschriften gleichzeitig – ist Tyson wieder beim Training in Catskill, in einem Gym mitten in der Stadt über der Polizeihauptwache, dritter Stock, kein Lift. Der Trainingsraum ist klein, ziemlich ramponiert und von romantischer Schäbigkeit; er gehört der Stadt und wird von ihr betrieben, ist aber für einen Dollar im Jahr an den gemeinnützigen Cus D’Amato Memorial Boxing Club vermietet. Mit seiner kargen Ausstattung und der Geisteshaltung, die auch seinen unscheinbarsten Details innewohnt, ist er das pure Gegenteil der Hightech-Hochglanz-Fitnessstudios unserer Tage. Es gibt nur einen einzigen Ring und ein paar Sandsäcke; die Decke ist hoch und wirft Blasen, die Beleuchtung ist veraltet. An den Wänden, von denen die Farbe abblättert, hängen Zeitungsausschnitte, Ankündigungen des Catskill Boxing Club, Fotos und Poster berühmter Champions (Louis, Walcott, Charles, Marciano, Patterson usw.) und Titelbilder von Zeitschriften. Hier ist en miniature Mike Tysons gesamte Karriere archiviert, und unter der Überschrift «Wir trauern um ihn» hängen zahlreiche Zeitungsausschnitte und Fotos, die sich auf den verstorbenen Cus D’Amato beziehen, den einstigen Präsidenten des Boxing Club. Natürlich ist Tyson dieses Studio am liebsten. Hier hat er mit dreizehn Jahren zu trainieren begonnen, und hier weht noch immer D’Amatos Geist. Das Studio hat sich Tyson unauslöschlich eingeprägt, mehr als jeder andere Ort auf Erden, und vermutlich hat sein erstaunlicher, früher Erfolg es seinerseits geheiligt.
Kein Athlet trainiert härter als ein Boxer, und kein Boxer heutzutage nimmt sein Training ernster als Mike Tyson. Tatsächlich scheint er seine Kondition in den ersten achtzehn Monaten seiner Karriere mehr oder weniger wie der legendäre Harry Greb gehalten zu haben: Er hat buchstäblich ständig gekämpft. Heute hat Tyson bereits sein morgendliches Lauftraining absolviert, «drei bis fünf Meilen, ich mag das, denn dann bin ich allein», und jetzt macht er die Übungen des sogenannten Vortrainings. (In Las Vegas wird er mit mindestens fünf Sparringspartnern trainieren. Jim Jacobs erklärt mir, die Sparringspartner bräuchten Pausen, um sich zu erholen.) Gekleidet in ein schwarzes Trikot und weite weiße Shorts, bewegt er sich von einem «Arbeitsplatz» zum nächsten, dicht gefolgt von seinem Trainer Rooney, den er sichtlich respektiert und sehr gern hat, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil auch Rooney ein Schützling von D’Amato war, ein Weltergewicht aus dem ehemaligen US -Boxerteam, der noch ein paarmal im selben Boxturnier wie Tyson antrat, als er schon dessen Trainer war.
Die Übungen sind anstrengend und erfordern mehr Konzentration, Kraft und schiere physische Ausdauer als jeder Kampf, den Tyson bisher gekämpft hat. Rooney hat eine Stoppuhr mit einer roten und einer grünen Glühbirne installiert, um die einzelnen Übungen zu kontrollieren; die rote signalisiert eine Pause, die grüne bedeutet «Weiter trainieren!» Als Erstes muss er seilspringen, und er springt wie in Trance; das Seil bewegt sich so schnell, dass man es nicht mehr sieht. Der Anblick eines Mannes von Tysons Statur, der so leichtfüßig, so scheinbar gewichtslos ist, hat etwas
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