Über Boxen
Ende einer offenbar privaten Sandstraße, ist innen wie außen makellos gepflegt und dennoch behaglich. «Ich lebe hier seit sieben Jahren», erzählt Tyson stolz. Er führt mich durch eine Küche und einen Salon, in dem es nur so glitzert vor Trophäen, die er nicht beachtet, und wir nehmen am äußersten Ende eines riesigen Wohnzimmers Platz. Ein japanischer Fotograf macht aus verschiedenen Winkeln Schnappschüsse, was Tyson ebenso wenig beachtet.
Das Leben in Catskill ist ruhig und von nahrhafter Regelmäßigkeit geprägt: Um sechs Uhr aufstehen, um einundzwanzig Uhr zu Bett gehen. Tägliches Training mit Rooney im Studio, eine Ernährung aus Fleisch, Gemüse, Pasta und Fruchtsäften, niemals Alkohol oder Koffein. Ein Hauch klösterlicher Ruhe in dieser halb ländlichen Umgebung. Doch es gibt zahllose Ablenkungen. Letzte Woche sprach Tyson im Rahmen einer Kampagne der amerikanischen Drogenbehörde vor Schülern einer Junior Highschool in New York City, und morgen soll er nach Jamaika zu einem Boxerbankett fliegen, bei dem, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, Don King einen Wohltätigkeitspreis erhält. «Aber ich fliege nicht, ich bin zu müde.» Sachlich spricht er über die Verantwortung, die der Ruhm mit sich bringe, und dass dieser von einem gewissenhaften Nutznießer ein bestimmtes Maß an staatsbürgerlicher Sklavenarbeit verlange. Dieses Bewusstsein belastet ihn sichtlich.
Ebenso sachlich äußert Tyson nun die erstaunliche Überzeugung, dass auf gewisse Freunde – «einige von denen, die man besonders gemocht hat» − kein Verlass sei. «Sie wollen mit dir befreundet sein oder behaupten das zumindest, dann geht irgendeine Kleinigkeit schief, und – », er macht eine wegwerfende Geste, «sie sind verschwunden.» Ich gebe zu bedenken, dass dies doch bestimmt nicht auf Menschen zutreffe, die er seit Langem kenne, aus der Zeit, bevor er berühmt geworden sei, wie zum Beispiel Jim und Loraine Jacobs, und Tysons Gesicht hellt sich auf. Die Jacobs’ werden immer seine Freunde bleiben, da gibt er mir recht. «Und wenn ich von jetzt an jeden Kampf verlieren würde, wenn ich zu Boden ginge, k . o. geschlagen würde – egal, die würden immer meine Freunde bleiben. Das stimmt.» Vorübergehend scheint er wieder guter Laune zu sein.
Tysons kostbarster Besitz in Catskill ist Shar-Pei, eine junge Hündin mit erlesenem chinesischem Stammbaum und einem rührend hässlichen Mopsgesicht. Die Haut auf ihrem Rücken wirft Falten, und ihr Leib wird von Zuneigung geradezu gebeutelt. Er habe sich immer einen solchen Hund gewünscht, sagt Tyson, habe sich aber bisher nie einen leisten können. «Diese Hunde wurden in China für die Wildschweinjagd gezüchtet, deswegen haben sie solche Falten auf dem Rücken», erklärt er. «Wenn der Keiler zugebissen hat, konnten sie sich einfach umdrehen und ihn weiter attackieren.» Während Tyson liebevoll über dieses kuriose, hochgezüchtete Geschöpf spricht, muss ich an Tysons eigene Taktik im Ring denken – wie flink er gegnerischen Schlägen ausweicht, indem er sich duckt oder weit zur Seite lehnt, dann wieder mit ganzer Hebelkraft und perfektem Timing kontert, oft mit seinem verheerenden rechten Aufwärtshaken. Aufregend, wie der «kleine» Krieger den größeren überwältigt … Er liebt seinen Hund, sagt er. Zum ersten Mal heute sieht er wirklich glücklich aus.
Bevor ich gehe, zeigt Tyson mir noch das Esszimmer, in dem er so viele Male mit Cus D’Amato gegessen hat. Der Raum ist hübsch möbliert und an diesem klaren Wintertag von Sonnenlicht durchflutet. «Cus saß hier», sagt er und deutet ans Kopfende des Tisches, «und ich saß hier. Neben ihm.»
Als Santayana sagte, wenn wir von Religion sprächen, meinten wir das Leben in einer anderen Welt, 4 konnte er nicht ahnen, wie sehr seine Bemerkung auf die Sportmanie unserer Tage zutrifft, auf die außerordentliche, an religiöse Inbrunst und Ekstase grenzende Leidenschaft, die Millionen Amerikaner gemeinhin für Sport empfinden. Für diese Menschen – in der Mehrzahl Männer – ist der Sport zur «anderen Welt» geworden, die ihr Interesse an «dieser» Welt, am eigenen Leben, der Arbeit, der Familie, den anerkannten Religionen, oft überlagert.
Angesichts der von den Medien hochgepuschten Athleten unserer Zeit und der bilderreichen Dokumentation ihres Erfolgs erlebt sich der durchschnittliche Mann selbst als durchschnittlich. In einem streng auf den Wettbewerb ausgerichteten Sport wie dem Boxen, dessen
Weitere Kostenlose Bücher