Über das Haben
tatsächliche Sprachgeschichte von der Seligkeit des HABENS eine abweichende Vorstellung anzeigt. Zugrunde liegt nämlich in älterer Zeit eine ursprüngliche Verkleinerungsform, die von dem Nomen HABE nur ein oder mehrere Schnipsel übrig lässt, also ein paar HABSEL . Dazu passen auch einige ähnliche Überbleibsel des Sprachgebrauchs wie zum Beispiel: Anhängsel, Mitbringsel und Geschreibsel. Diese kleinen, aber nicht zu verachtenden HABSEL (n) muss man sich als Herkunft dieses (anfänglich auf der ersten Silbe zu betonenden) Wortes HABSELIGKEITEN vorstellen. Die Seligkeit hat sich erst nachträglich hinzugesellt.
DRITTER ABSCHNITT
Lebenszeit und Körperlichkeit
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ALLES HABEN HAT SEINE ZEIT – MIT KOHELET UND HANS BLUMENBERG
«Es ist alles ganz eitel», so beginnt in Luthers Bibelübersetzung das Buch Kohelet (bei Luther wird es dem «Prediger Salomo» zugeschrieben) * . Es kann als das weltlichste Buch der Bibel angesehen werden. Das hebräische Wort
häbäl
, das Kohelet in seinem Buch nicht weniger als 38mal verwendet und das von Luther mit «eitel», von modernen Übersetzern bisweilen mit «Wind» oder «Windhauch» übersetzt wird, ist ganz auf die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins gestimmt. Man könnte es fast ebenso gut mit «endlich» oder mit «elendig» wiedergeben. Gemeint ist die kleine und armselige Menschenzeit, die einen äußersten Kontrast zur endlos erscheinenden und in ihrem Sternenglanz strahlenden Weltzeit bildet.
Von dieser Weltzeit gibt Kohelet schon im ersten Kapitel seines Buches einen großartigen Eindruck, der auf eine ewige (zyklische) Wiederkehr des Immergleichen (Vulgata:
circulus, circuitus
) hinausläuft:
Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt. Die Erde bleibt aber ewiglich. Die Sonne geht auf und geht unter und nimmt ihren Lauf dahin, wo sie wieder aufgeht. Der Wind weht von Nord nach Süd und in der Gegenrichtung von Süd nach Nord. Alle Flüsse fließen ins Meer, doch das Meer wird davon nicht voller. Zu den Quellen, aus denen sie kommen, zu denen fließen sie zurück. […] Und es geschieht nichts Neues unter der Sonne.
(Kohelet I, 4–9)
Dieses Anschauungsbild ist, trotz des Wortes «ewiglich» (Luther), kein Abbild der Ewigkeit Gottes, sondern Ausdruck menschlichen Staunens über die Dimensionen einer Welt, die nach Zeit und Raum alle subsolaren Vorstellungen sprengt und den Menschen sprachlos macht. Und so wendet sich der biblische Autor bald ganz der kleinen Menschenzeit zu, die vor dem unermesslichen Horizont der Weltzeit ihre Nichtigkeit oder «Eitelkeit» erfährt: «
vanitas vanitatum
», wie es in der Vulgata heißt. Indes ist diese armselige Menschenzeit keineswegs leer. Sie ist von allem möglichen Menschenwerk besetzt, wie es in seiner Fülle durch keinen Plural erschöpfend erfasst werden kann.
Das ist der kosmologische und anthropologische Horizont, vor dem Kohelet im dritten Kapitel seines Buches zu seiner großen Litanei und Elegie der Endlichkeit anhebt. Sie hat 14 Stationen zu je zwei gegensätzlichen Positionen. So wird die kollektiv in der Menschenzeit verborgene Pluralität der Endlichkeiten in 28 Habitus-Objekten offengelegt. Der biblische Text soll hier in enger Anlehnung an Luthers Übersetzung ungekürzt wiedergegeben werden, da sonst die breit gefächerte Pluralität dieses «eitlen» Tuns nicht voll erfasst werden kann:
«Ein jegliches HAT seine Zeit, und alles Tun unter dem Himmel HAT seine Stunde:
eine Zeit zum Geborenwerden und eine Zeit zum Sterben;
eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ernten;
eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen;
eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Aufbauen;
eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen;
eine Zeit zum Klagen und eine Zeit zum Tanzen;
eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Aufsammeln;
eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit zum Loslassen;
eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren;
eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen;
eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Vernähen;
eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden;
eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen;
eine Zeit zum Kriegführen und eine Zeit zum Friedenschließen.
(Kohelet III,1–8)
So wie hier in deutscher Sprache nachgeschrieben, notierte diesen Katalog im 3. Jahrhundert vor Christus der biblische Prediger Kohelet, der vielleicht, seinen eigenen Worten zufolge, mit dem weisen König Salomon identisch ist, von dem man weiß, dass er eines
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