Über das Haben
wahrlich, ich sage euch […]: Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der HAT das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken» (Joh. 6, 53). Viele seiner Anhänger nehmen an dieser Rede Anstoß, und nicht wenige von ihnen verlassen den Meister. Nicht so Simon Petrus. Als Jesus ihn im Kreis der Apostel fragt, ob auch er ihn verlassen will, entgegnet ihm Petrus mit aller Kraft seines Glaubens: «Herr, wohin sollen wir gehen? Du HAST Worte des ewigen Lebens» (Joh. 6, 68).
*
Augen, um Jesus zu sehen, und Ohren, um seine Lehre zu hören, hätte der Rabbi Saulus von Tarsus wohl gehabt. Doch hat er zu Lebzeiten Jesu nicht zum Glauben gefunden. Erst eine wundersame Erscheinung, sein «Damaskus», hat ihm Augen und Ohren geöffnet und aus dem fanatischen Christenverfolger Saulus den Apostel Paulus gemacht.
Als Apostel war Paulus der wortmächtigste und erfolgreichste Prediger des neuen Glaubens. Ohne ihn ist die geschichtliche Entwicklung des Christentums von einer jüdischen Sekte zu einer Weltreligion nicht vorstellbar. Die Werkzeuge des Geistes, die diesem Apostel, auch ohne formale Schulbildung, zu Gebote standen, waren in der griechisch-römischen Welt von den «freien Künsten» der Rhetorik und Dialektik her gut bekannt, doch wurden sie kaum je so virtuos praktiziert wie von diesem «Intellektuellen» (Bruce Chilton).[ 1 ]
Das für Paulus besonders charakteristische Denkmodell hat in der neueren Theologie einen Namen erhalten, der aus der griechischen Bibelsprache abgeleitet ist:
Kenosis
.[ 2 ] Dieser Begriff bedeutet wörtlich«Entäußerung». Gemeint ist, dass der große und allmächtige Gott sich seiner Gottheit so weit «entäußert» hat, dass er seinen eingeborenen Sohn dahingegeben hat, damit er als Mensch unter Menschen lebt und für sein Erlösungswerk den Tod auf sich nimmt, «ja sogar den Tod am Kreuze».
Kenosis
, das ist aber auch nach der Rhetorik ein
Oxymoron,
nach der Logik und Dialektik ein
Paradoxon
, also in beiderlei Hinsicht eine Vereinigung des Unvereinbaren in einem Glaubenssatz für Christen, denen über alle Entäußerung hinweg die Verheißung der Erlösung und des ewigen Lebens zuteil geworden ist.
Auch in der damaligen Weltstadt Korinth, wo der Apostel Paulus auf einer seiner Missionsreisen eine christliche Gemeinde gegründet hat, erwarten viele Gläubige für die nahe Zukunft die baldige Wiederkehr des Messias und in Gemeinschaft mit ihm die Teilhabe am ewigen Leben. Doch nun befinden wir uns bereits in den fünfziger Jahren des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, und die Einlösung der Verheißung lässt auf sich warten (was die Theologen die «Parusie-Verzögerung» nennen). Mehr als in anderen Städten nimmt in der lebhaften Weltstadt Korinth die Ungeduld der Christen kritische Formen an. Und sie stellen gerade ihm, dem intellektuellen Apostel, der zudem römischer Bürger ist, skeptische Fragen, in erster Linie diese: Verträgt sich der Wartestand, in dem wir Christen uns für kurze Zeit noch befinden, mit dem Ehestand, der doch darauf beruht, ein Leben lang eine Frau/einen Mann zu HABEN ?
Durch Fragen und Nachfragen dieser Art wird Paulus gerade von den besorgten Korinthern gedrängt, seiner «großen» Predigt vom Christ- SEIN eine «kleine» Predigt über das christliche HABEN beizugeben. Es versteht sich für Paulus, dass diese nur für eine kurze (wörtlich: eine abgekürzte) Zeitspanne gelten soll bis zur endgültigen Umwandlung der diesseitigen in die jenseitige Welt. Diesem Ansinnen kommt Paulus in seinen beiden Pastoral-Episteln an die Korinther (55/56 n. Chr.) nach. Zunächst schreibt Paulus in seinem ersten Brief (1. Kor. 7, 29ff. – nach dem Luther-Text mit Vergleichsstellen aus der Vulgata):
Das sage ich aber, liebe Brüder, die Zeit ist kurz [
tempus breviatum est
]. Weiter ist das die Meinung, die da Frauen HABEN , dass sie SEIEN , als HÄTTEN sie KEINE [
ut et qui habent uxores, tamquam non habentes sint
]. Unddie da weinen, als weinten sie nicht. Und die sich freuen, als freuten sie sich nicht. Und die da kaufen, als besäßen sie es nicht. Und die von dieser Welt Gebrauch machen, dass sie sie nicht missbrauchen. Denn das Wesen dieser Welt vergeht [
praeterit enim figura huius mundi
].
An diesem kleinen Textabschnitt lässt sich zeigen, dass der begnadete Briefschreiber Paulus für eine überzeugende Beantwortung dieser Frage (und weiterer Zeit-Fragen, das HABEN betreffend) die Künste seiner Rhetorik und Dialektik in höchster
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