Über das Haben
du mir die geliehene DVD nicht zurückgibst, dann HAST du ein Problem». Man versteht, dass in diesem Konditionalsatz eine (kleine) Drohung versteckt ist. Diese wird jedoch nicht in deutlichen Worten als solche ausgesprochen. Vermutlich handelt es sich bei diesem alltäglichen Beispielsatz nicht um einen gewichtigen Streitfall. Sind denn überhaupt «Sanktionen» angebracht, wenn eine DVD längere Zeit zurückgehalten wird? Diese mögliche Reaktion bleibt in der Schwebe, soll vielleicht auch so deutlich gar nicht angesprochen werden. Deshalb ist ein Nomen wie «Problem» mit seiner relativ unscharfenBedeutung für diesen Fall recht gut geeignet, um als Deckwort für ein Alltags-Tabu zu dienen.
Die Frage, welche Bereiche der sprachlichen Verständigung im Einzelfall tabuisiert werden, kann nicht ein für allemal beantwortet werden. Es sind aber wohl in vielen Fällen Situationen, die emotional unter Spannung stehen wie beispielsweise extremes Glück und extremes Unglück, so wenn jemand etwa sagt: «Da HABEN wir ja mal wieder Schwein GEHABT !» oder auch, ganz im Gegenteil: «Da HABEN wir diesmal aber Pech GEHABT !» Ein Rest von Magie und Aberglauben mag dabei auch in unseren aufgeklärten Zeiten noch mitspielen, sowohl bei extrem unglücklichen Zuständen (die man nicht unnötig «bereden» und somit erneut herbeirufen will) als auch bei extrem glücklichen Zuständen (auf die man nicht das «neidische Schicksal» aufmerksam machen will).
Solche unwillkommenen Nebenfolgen werden in beiden Beispielen durch unverfängliche Deckwörter vermieden, im ersten Fall durch «Schwein» (das bekannte Glücksschwein ist gemeint) und im zweiten Fall durch «Pech» (ursprünglich die mit Pech verschmierte Leimrute, auf der ein «Pechvogel» gefangen wurde). Aus beiden Deckwörtern kann das Subjekt wahrscheinlich ohne größere Mühe den Klartext herauslesen.
Eine zweite Tabu-Zone, die in auffälliger Häufung HABEN -Prädikationen anzieht, ist der Bereich Verstand/Unverstand. Als Leitbeispiele können dienen: «Er|sie HAT aber Köpfchen!» und «Er|sie HAT eine lange Leitung!» Die Deckwörter, mit denen in diesen Beispielen die auffälligen Grenzwerte der Intelligenz verhüllt werden, bestehen wiederum aus Wörtern der Umgangssprache, die von sich aus unverdächtig sind, wenn man von dem kleinen Verdachtshinweis durch die diminutive Form «Köpfchen» absieht.
In enger Verbindung mit der soeben besprochenen Tabu-Zone steht ein weiterer Bereich des extremen Unverstands, der dann vorliegt, wenn die Grenzen zur Verrücktheit erreicht oder überschritten sind. Hier häufen sich ebenfalls die HABEN -Sätze mit verhüllter Semantik. Die nun bevorzugten Deckwörter stammen aus sehr unterschiedlichen Sprachbereichen, zum Beispiel: «Er|sie HAT einen Tick/einen Klaps/einen Knall/einen Hau/eine Macke/einenVogel/eine Meise/einen Piep/eine Schraube locker/nicht mehr alle Tassen im Schrank» – oder einfach: «Er|sie HAT sie nicht mehr alle». Gemeinsam ist all diesen Tabu-Ausdrücken eine Art diminutiver Komik.
In dem immer heiklen Grenzbereich von Verstand und Unverstand findet man schließlich auch den sehr produktiven Tabu-Bereich der Trunkenheit mit oft ins Komische verschobenen Deckwörtern wie: «Er|sie HAT einen Schwips» (= leichter Fall) und «Er|sie HAT den Kanal voll» (= schwerer Fall). Wer gerne Witze erzählt oder anhört, findet in seiner Witzrunde ein üppiges Vokabular zur Auswahl von Deckwörtern für die harmlosen Bosheiten der Gemütlichkeit.
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Als potentielle Tabu-Zone darf in diesem semantischen Zusammenhang schließlich auch der Bereich Reichtum/Armut nicht unerwähnt bleiben, ohne dass er hier in seiner ganzen Tragweite zum gesellschaftlichen Problem gemacht werden könnte. Da findet man ebenfalls viele Habitus-Objekte, die von scheinbar humorigen Deckwörtern verhüllt werden. So scheint insbesondere das Geld, das man zum alltäglichen Gebrauch entweder HAT oder NICHT HAT , eine ziemlich heikle Sache zu sein, die mit solchen weit verbreiteten Deckwörtern wie «Kohle», «Knete» oder «Pinke-Pinke» verharmlost wird. Hier wie auch in allen anderen Tabu-Zonen verbraucht sich dieses Deckvokabular übrigens relativ leicht und wird dann schnell ausgetauscht, je nach dem Milieu der betreffenden Gruppensprache und der in ihr geltenden Sprachmode.
So zeigt es sich auch an unserem nächsten Beispiel, das aus dem Katalog der potentiellen Tabu-Zonen den Bereich Macht/Ohnmacht herausgreifen soll. Hier wird ebenfalls
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