Über das Haben
der Menschen ausdrücklich besprochen werden soll, häufen sich im Sprachgebrauch die HABEN -Sätze, zum Beispiel:
Wir HABEN eine beschwerliche Jugend/ihr HABT ein sorgloses Alter
Wir HABEN einen verregneten Sommer/wir KRIEGEN doch noch herrliches Wetter
Wie spät HABEN wir es denn?/ HABEN wir schon Feierabend?
Während diese beiden Beispielgruppen noch eine gewisse Ausgewogenheit zwischen SEIN und HABEN erkennen lassen, verschieben sich die Gewichte immer dann noch weiter zum HABEN hin, wenn zivilisatorisch und institutionell geregelte Zeitverhältnisse in Betracht gezogen werden. Das gilt in besonderem Maße für alle Fristen, das heißt, für solche kürzeren oder längeren Zeitabschnitte, die einem festgelegten Endpunkt («Termin») entgegenlaufen. Es heißt daher regelmäßig:
Er HAT Aufsicht/Dienst/Sprechstunde/Urlaub/Mittagspause/Feierabend/Verspätung
Sie HAT eine Verabredung/eine Besprechung/einen Arzttermin/eine Telefonkonferenz/Klavierstunde/zwei Jahre Garantie
Wir HABEN geregelte Arbeitszeit/Teilzeit/Kurzarbeit/Überstunden/Probezeit
Sie HABEN Kredit/Schulden/Bedenkzeit/noch Aufschub/Schonfrist/eine (letzte) Chance
In existenziell-ontologischer Hinsicht kann sogar das ganze Leben, das den Menschen zu leben gegeben ist, als befristete und insofern als knapp bemessene Zeit angesehen werden. Doch ist das Ende der «Laufzeit» für gerade diese Frist unbekannt. Blumenberg nennt das «die Gnade einer unbekannten Frist».[ 3 ]
* Die Bibel wird in diesem Buch grundsätzlich zitiert in der Sprachform, mit der sie im deutschen Sprachraum gewirkt hat. Das ist maßgeblich die Luther-Bibel, deren Wortlaut beibehalten ist, jedoch mit gewissen Modernisierungen des Sprachgebrauchs (z.B. «Frauen» statt «Weiber»). Ergänzend wird, wenn es sich ergibt, die lateinische Bibel in der Vulgata-Fassung hinzugezogen. Zu den Äquivalenten des Wortes HABEN in den historisch zugrunde liegenden Sprachen Hebräisch, Aramäisch und Griechisch verweise ich auf das Kap. 11: «Andere Sprachen HABEN anders».
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HABEN UND NICHT-HABEN IM DIESSEITS UND JENSEITS – MIT JESUS UND DEM APOSTEL PAULUS
Der Psalm 115 des Alten Testaments hat theologisch ein besonderes Gewicht dadurch, dass er den monotheistischen Glauben Israels («Unser Gott IST im Himmel») mit dem Polytheismus (dem «Götzendienst») der Heiden konfrontiert. Von diesen heißt es mit scharfen Worten: «Sie HABEN Münder und reden nicht. Sie HABEN Augen und sehen nicht. Sie HABEN Ohren und hören nicht». Diesen Psalm muss auch Jesus im Sinn haben, wenn er an seine Zuhörer die Aufforderung richtet: «Wer Ohren HAT zu hören, der höre!» (Mark. 4,23). Diejenigen aber, die nicht an ihn als den Erlöser Israels glauben wollen, müssen sich mit den Psalm-Worten tadeln lassen: «Ihr HABT Augen und seht nicht. Ihr HABT Ohren und hört nicht» (Mark. 8,18). Bei diesen Worten ist auch zu bedenken, dass Jesus nie anders als mündlich gelehrt hat, von Angesicht zu Angesicht.
In diesen Zusammenhang gehört auch eine von den Evangelisten mehrfach zitierte und sogar sprichwörtlich gewordene Bibelstelle, die auf den ersten Blick irritieren muss: «Wer da HAT , dem wird gegeben werden, und er wird es in Fülle HABEN . Wer aber NICHT HAT , dem wird auch das, was er HAT , noch genommen werden» (Matth. 25, 28). Diese auf den ersten Blick «unchristliche» Lehre (unter Ökonomen als «Matthäus-Effekt» bekannt) darf jedoch nicht vordergründig auf materiellen Besitz und die Bedingungen seiner Vermehrung im neuzeitlichen Wirtschaftsleben bezogen werden. Sie steht bei Matthäus im bildlichen Kontext verschiedener Gleichnisse, die von der Fruchtbarkeit des Gotteswortes handeln. Mit diesem biblischen HABEN ist also eine Disposition und Glaubensbereitschaft gemeint, die ein Hörer des Gotteswortes nicht nur für sich erwerben, sondern fruchtbringend auch an andere weitergeben soll.
Bei der Botschaft, die Jesus im Neuen Testament verkündet, ist derEinsatz hoch. Es geht um das «ewige Leben». Und so predigt er vielerorts mit fast den gleichen Worten: «Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer an mich glaubt, der HAT das ewige Leben» (Joh. 6, 47). Diese Verheißung wird gelegentlich gleichzeitig in einem SEINS -Satz ausgedrückt: «Ich BIN das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, […] WIRD das Licht des Lebens HABEN » (Joh. 8, 12).
In einer anderen und für manche Erwartungen seiner Jünger offenbar schwer begreiflichen Ausdrucksweise lautet die Botschaft so: «Wahrlich,
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