Über das Haben
Tages freiwillig auf seine Krone verzichtet hat.
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Der alle irdischen Vorstellungen übersteigende Kontrast zwischen der fast unendlichen Weltzeit und dem Ärgernis der allzu endlichen Menschenzeit ist nicht nur biblisches Thema. Er beherrscht auch schon die Gedanken der weltlichen Philosophen seit den Anfängen der griechischen Naturphilosophie (6. Jh. v. Chr.), als die Philosophen noch die Hoffnung hatten, alle Formen der Zeit, ob sie nun am Himmel oder auf Erden zu beobachten waren, mit dem gleichen Maß messen zu können. Sokrates war der erste, der diesen Ehrgeiz nicht mehr teilte. Unbeeindruckt von den Superlativen der astronomischen Dimensionen, hat er die Philosophie vom Himmel herabgeholt auf die Erde, wo Menschen leben, denen zu zeigen ist, wie sie auch in ihrem Innern Zeitliches und Ewiges suchen können. Doch finden wir sehr viel später bei Kant noch einmal beide Extreme zusammen gedacht in seinem oft zitierten Wort von dem «gestirnten Himmel über mir» und dem «moralischen Gesetz in mir» als den letzten Instanzen für die Orientierung persönlichen Handelns nach den Gesetzen der praktischen Vernunft[ 1 ].
Unter den neuzeitlichen Philosophen ist es vor allem Hans Blumenberg (1920–1996), der seine Leser noch einmal zu Kohelet zurückführt und in seinen philosophischen Schriften dem großen Konflikt zwischen den genannten Grundformen der Zeit reichlichen Raum gibt, vor allem in seinem Buch «Lebenszeit und Weltzeit» (2001). Blumenberg ist in seinem ganzen Leben wie kein anderer Philosoph seiner Generation fasziniert gewesen von der Pracht des gestirnten Himmels über ihm und von der Maßlosigkeit aller Zeitverhältnisse, die am und im Weltraum von Astronomen und Astronauten zu beobachten sind: «Die Welt prahlt vor dem Leben mit der Zeit, […] die sie HAT .» Es sind gewaltige Zeitmengen, denen offenbar kein Genügen beikommen kann.[ 2 ]
Sind solche überwältigenden Zeitverhältnisse wenigstens messbar? Das ist offensichtlich der Fall. Das Weltall ist tatsächlich viel weiter, als es die körperlichen Sinne zulassen, messbar und berechenbar. Ist es auch beherrschbar? Das bleibt eine offene Frage. Blumenberg schreibt dazu, dass vom Menschen im Ansehen der Sterne zwar vielleicht gesagt werden kann, dass er das Maß aller astronomischen Dinge « HAT », doch nur mit der gewichtigen Einschränkung dass er dieses nicht IST . Denn die endliche Menschenzeit, verstanden als «das eine und einzige Leben, das einer HAT », kann im Kontrast zur unergründlichen Weltzeit ebenso gut als HABEN wie als NICHT-HABEN beschrieben werden. Blumenberg schreibt: «Die zum Erlebnis werdende Welt fordert dem Leben den Preis seiner Zeit ab – seiner ganzen Zeit, eines Mehr an Zeit, als es HAT .» Es nützt folglich auch nichts, «dass ein Wesen mit endlicher Lebenszeit unendliche Wünsche HAT ». Es muss unweigerlich vor diesem «Weltmissbefinden» resignieren, einfach weil die Zeit knapp ist. Daraus folgt auch: «Die meisten Erfahrungen, die gemacht werden könnten, werden nicht gemacht, weil wir nicht genug Zeit HABEN .»
Ist Blumenbergs Philosophie eine authentische Denkform unserer Zeit? Ja, denn sie hat viel dazu beigetragen, die
conditio humana
als eine
conditio temporalis
zu verstehen, sowohl beim HABEN als auch – im gleichem Atemzug – beim NICHT-HABEN der Zeit. Insofern hat Blumenberg sich in vielen seiner Schriften die schwerwiegende Frage gestellt, nach welchem Maß eigentlich die Lebenszeit des Menschen so knapp ist. Und er hat die Frage auf seine Art – mit Melancholie und Ironie – beantwortet mit dem Titel eines seiner kleineren Essays (zugleich einer postum herausgegebenen Aufsatzsammlung): Ja, die Menschenzeit reicht für vieles aus, muss wohl ausreichen, aber nicht für «die Vollzähligkeit der Sterne».
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Die Philosophie sollte sich auch im gewöhnlichen Leben bewähren können. Darüber gibt auch in dieser Hinsicht die Sprache Auskunft. Die von Hans Blumenberg so genannte Weltzeit wird im gewöhnlichen Leben vor allem in meteorologischer oder klimatischer Anwendung wahrgenommen. Sie steht den Berechnungen der Kalenderund den Messungen der Uhren nahe. Zum Ausdruck solcher Zeitverhältnisse bieten sich vor allem SEINS -Sätze an, zum Beispiel:
Wir SIND noch jung/ihr SEID im Rentenalter
Wir SIND doch nicht mehr im 20. Jahrhundert!
Wie spät IST es?/ IST schon Mittag?
Gestern WAR noch Winter/heute IST schon Frühling
Wenn jedoch die Zugehörigkeit der Zeit und des Wetters zum Leben
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