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Über das Haben

Über das Haben

Titel: Über das Haben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Weinrich
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Konzentration aufbieten muss. Eingespannt in einen Rahmen, der von den zwei Hinweisen auf die kurze Zeit des Wartestandes gebildet ist, steht im Zentrum seiner Antwort das theologische Konzept eines irgendwie «schwebenden» Ehestandes: HABEN «als ob» sie NICHT HÄTTEN .[ 3 ]
    Doch ist die pastorale Beratung des Apostels eingebunden in eine fünfgliedrige «Auffächerung» (in der alten Rhetorik: Disjunktion, lat.
disiunctio
).[ 4 ] Diese rhetorische Figur entspricht in ihrer Form den gespreizten Fingern einer weit geöffneten Hand, die der Redner seinen Zuhörern mit suggestiver Gestik entgegenstreckt mit dem Ziel, ihnen auch das Ungewöhnlichste – hier eine paradoxe Vereinigung von HABEN und NICHT-HABEN – (mit einer altdeutschen Vokabel) «handsam» zu machen. Wenn er sie dazu überredet oder sie sogar davon überzeugt hat, dann gewiss, weil dieses Kernstück seiner «evangelischen Räte» nur für einen kurzzeitigen Ausnahmezustand gelten soll.
    Der erste Brief an die Korinther, in dem diese Normen des christlichen Verhaltens formuliert sind, hat dem Apostel in seiner Gemeinde nicht nur Zustimmung eingebracht. Und so lässt Paulus wenig später dem ersten einen weiteren Brief an die Korinther folgen, in dem er einen deutlich milderen und verbindlicheren Ton anschlägt. Auch gewährt er hier seinen Adressaten manchen Einblick in seine persönlichsten und intimsten Gedanken, die er sonst nicht eben leicht von sich gibt. Anscheinend macht auch ihm die unerwartete und schwer vermittelbare Verzögerung bei der Ankunft des Gottesreiches zu schaffen. So rückt in seinem Denken die Geduld als jüngere Schwester der Hoffnung nahe an die ersten Christentugenden heran. Sie steht jetzt in enger Verbindung mit der theologischen Trias Glaube, Hoffnung,Liebe, die Paulus ebenfalls seinem ersten Korintherbrief anvertraut hat.
    Lesen wir nun noch eine weitere und komplementär zu verstehende Textstelle zur paulinischen Theologie des HABENS und NICHT-HABENS , wie sie im zweiten Brief an die Korinther formuliert ist:
    Erweisen wir uns also in allen Dingen als Diener Gottes. (…) Als die Verführer und doch wahrhaftig. Als die Unbekannten und doch bekannt. Als die Sterbenden, und siehe, wir leben. Als die Gezüchtigten und doch nicht getötet. Als die Traurigen, aber doch allezeit fröhlich. Als die Armen, aber die doch viele reich machen. Als die NICHTS INNEHABEN und doch alles HABEN ! [
tamquam nihil HABENTES et omnia POSSIDENTES
] (2. Kor. 6, 4–10).
    Der Form nach handelt es sich wieder um eine rhetorisch-dialektische «Auffächerung» (Disjunktion), die gleichfalls, obwohl siebengliedrig, die gespreizte Hand eines suggestiv agierenden Redners nachbildet. Und als Instrument der logisch-dialektischen Paradoxie steht dem Apostel wiederum das Als ob (
tamquam
«gleichsam») zur Verfügung. Doch ist die Hand des Redners diesmal in eine andere Richtung ausgestreckt, so dass die Negation zum Diesseits, die Affirmation zum Jenseits weist: NICHT-HABEN , als ob man HÄTTE . Der pastorale Sinn bleibt jedoch der gleiche: NICHTS zu HABEN , ist gar nicht so schwer zu ertragen, da es sich ja nur um eine kurze Zeitspanne handelt. Dem Geiste nach HAT der gläubige Christ schon jetzt ALLES .
    Auf diesem dialektisch gewundenen Weg darf der Apostel sich auch wohl einen «Verführer» nennen, da er ja mit dem Aufgebot seiner geistlichen Rhetorik zur Wahrheit verführt (
seductor verax
). So können die Christen von Korinth und die anderen Christen, wenn sie diese Botschaft annehmen, auch in ihrem Wartestand «alle Zeit fröhlich» sein.
    *
    Die Als-ob-Botschaft, mit der Paulus den Gläubigen in Korinth den verlängerten Wartestand plausibel machte, hat eine bis in die Neuzeit reichende Resonanz in der geistlichen und weltlichen Literatur gehabt. Davon handelt das gelehrte Buch, das Ulrich Fülleborn mit ausdrücklichem Bezug auf Paulus unter dem Titel «Besitzen als besäße mannicht» zu diesem Thema geschrieben hat.[ 5 ] Die zahlreichen Zeugnisse dieser literarhistorischen Dokumentation (Friedrich Schlegel, Schleiermacher, Grillparzer, Gotthelf, Rilke und viele andere) bilden insgesamt eine Ehrentafel für diejenigen Autoren, die dem «Besitzdenken» entsagt und in ihren Werken glaubhafte Alternativen einer «nichtpossessiven» Orientierung des Daseins vorgestellt und vorgelebt haben. Ich will die Lektüre seines Buches nachdrücklich empfehlen.
    Zum Schluss dieses Kapitels möchte ich von mir aus als literarisches Beispiel für eine

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