Über das Haben
zutiefst nicht-possessive, aber gleichwohl positiv HABENDE Orientierung des Lebens an den lutherischen Barockdichter Paul Gerhardt (1607–1676) erinnern. Auch er nimmt in seinen Gedichten und geistlichen Liedern ausdrücklich auf Paulus Bezug[ 6 ] und zweifelt mit dem Apostel nicht daran, dass auch nach Jahrhunderten des Wartens auf die Wiederkehr des Erlösers die christliche Geduld nicht am Ende zu sein braucht. Denn der lange «Aufschub» in der Zeit, so ruft er seinem Namenspatron aus der historischen Ferne zu, ist nicht entscheidend, da doch jedem Christenmenschen ein unerschöpflicher Zuspruch gegeben ist, der in einem seiner tröstlichsten Verse lautet: « HAST du Gott, so HAT’S nicht Not».
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I HAD NO TIME TO HATE
– MIT EMILY DICKINSON
Im Jahre 1862 schrieb die amerikanische Dichterin Emily Dickinson ein kleines Gedicht ohne Titel, das in der eigenwilligen Orthographie, Interpunktion und Metrik der Autorin wie folgt lautet (und in meiner Übersetzung leider nur angenähert wiedergegeben werden kann):
I had no time to Hate –
Because
The Grave would hinder Me –
And Life was not so
Ample I
Could finish – Enmity -
Nor had I time to Love –
But since
Some Industry must be -
The little Toil of Love –
I thought
Be large enough for Me -[ 1 ]
[Ich hatte keine Zeit zu hassen,
denn das Grab wäre mir hinderlich.
das Leben war so üppig nicht,
um mit der Feindschaft Schluss zu machen.
Auch hatte ich zu lieben keine Zeit,
doch da ein bisschen Fleißigsein nie schadet,
schien mir die kleine Liebesfron
genug zu sein für mich.]
Dieses federleichte Gedicht hat ein bedeutungsschweres Thema: Liebe und Hass. Man kennt, beispielsweise von William Blake und von Schiller, nicht wenige Gedichte dieser Art, in denen Himmel und Hölle, Freiheit und Tyrannenketten scharf pointiert gegeneinander gesetzt sind und unversöhnlich miteinander im Streit liegen. Doch sindes bei Blake und Schiller zumeist längere Gedichte, in denen sich die Autoren genügend Zeit nehmen, für und gegen die Urkräfte der Weltgeschichte mit dem Rüstzeug ihrer Bildung zu argumentieren und zu polemisieren. Nicht so Emily Dickinson in den zwei Strophen ihres Gedichtes, in denen kurze und ultrakurze Verse das ganze Gewicht und Übergewicht des elementaren Liebens und Hassens tragen müssen. Wie ist ihr dieses Wagnis gelungen?
Emily Dickinson hat dieses bewundernswerte Gedicht als ein Zeit-Gedicht geschrieben. Ihre Zeit ist die von Geburt und Tod begrenzte Lebenszeit. Es ist eine knappe Zeit, sofern ein Mensch wie sie immer schon das Grab (
the grave
) vor Augen hat und das Leben folglich von seinem Ende her denkt. So ist die Zeit, die sie HAT , immer schon untermischt mit der Zeit, die sie NICHT HAT . Das wird in ihrem Gedicht am deutlichsten in den beiden parallel geführten Strophenanfängen ausgedrückt:
I HAD no time to hate/Nor HAD I time to love
. Nicht einmal für solche elementaren Lebensäußerungen wie Hassen und Lieben hat die Zeit ihres Lebens gereicht.
So ist dieses Gedicht eine pointierte Widerrede zum Buch Kohelet geworden, in dem wir lesen konnten: «Das Lieben HAT seine Zeit und das Hassen HAT seine Zeit» (vgl. Kap. 16). In die biblische Sprache übersetzt oder rückübersetzt, lautet also Emily Dickinsons resignative Replik: «Das Lieben HAT seine Zeit NICHT GEHABT , und auch das Hassen HAT seine Zeit NICHT GEHABT ». Die Kunst des HABENS , wenn es sie denn geben sollte, erweist sich in diesem Gedicht als machtlos gegenüber der Zeit als dem unerbittlichen Verknapper aller menschlichen Dinge.
Doch steht es mit dem HABEN -Saldo der Zeit für Emily Dickinson vielleicht doch nicht ganz hoffnungslos. Es ist ja vorstellbar, dass wenigstens eine Kunst des NICHT-HABENS ihr dienlich sein kann, um aus dem großen Scheitern aller Lebenspläne gleichwohl mit etwas List und «Gewerbefleiß» (so würde ich «
Industry»
am liebsten übersetzen) wenigstens ein kleines Quantum Liebe für sich zu retten. Und das, so scheint es, gelingt ihr auch mit der täglichen Mühe ihrer «kleinen Liebesfron» (
the little toil of love
) – was ja wohl nur als bescheidene und im christlichen Sinne demütige Umschreibung ihres poetischen Schaffens verstanden werden kann. Mehr Liebe braucht sie nicht, denkt sie.
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DIE ZEIT IM LEIBE HABEN – MIT EINER MUSTERUNG VON THOMAS MANN
Der französische Philosoph Gabriel Marcel war, wie man sich vielleicht erinnert (vgl. Kap. 5), davon überzeugt, dass zum HABEN
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