Über das Haben
kann leider keine Rede sein. Die bessere Einsicht des Volks bleibt ohne Folgen. Zwar schwant dem Kaiser, die Leute könnten vielleicht mit ihrem Urteil RECHT HABEN (
«de HAVDE RET »
), doch kann der splitternackte Mann, äußerlich ungerührt, seine «
procession»
glanzvoll fortsetzen, und die Kammerherren halten ihm weiterhin die nicht vorhandene Schleppe.
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KLEIDUNG HABEN, SCHMUCK HABEN ODER AUCH NICHT HABEN – MIT EINER NOVELLE VON MAUPASSANT
Nachdem im vorherigen Kapitel die Frage besprochen worden ist, was alles zum Ganzen des menschlichen Körpers und zu seiner Psyche «gehört», darf die Kleidung nicht außer Betracht bleiben, wenn sie einem Subjekt als Sache zu eigen ist oder sonstwie «zu ihm gehört». Nicht ohne Grund nennt man ja die Kleidung, die jemand am Leibe hat, sein «Zeug» oder seine «Sachen» schlechthin. Nächst der Körperlichkeit («einen Körper HABEN ») ist die Kleidung die Nähe des HABENS schlechthin. Was also ein Mann oder eine Frau anzieht, das steht seinem oder ihrem SEIN ziemlich nahe und kann sehr an den Nerv rühren, wenn da irgendetwas nicht stimmt.
Das alles ist ein weites und blühendes Feld für Habitus-Objekte, wobei jedoch nicht nur das bloße HABEN dieser oder jener Kleidungsstücke gemeint ist, die jemand vielleicht im Kleiderschrank HAT , sondern auch die Art und Weise ihres Gebrauchs am Körper. In vielen Sprachspielen wird nämlich die quasi symbiotische Nähe des Körpers zu SEINEN Kleidern betont, und zwar mit Hilfe von geeigneten Präpositionen, die zusammen mit dem Zubringer-Verb HABEN fest gefügte zweiteilige Verben bilden, zum Beispiel: «Er|sie HAT einen Mantel AN /eine Mütze AUF /die Schuhe AUS /einen Schirm MIT /ein Cape UM /die Jacke ZU ». Wir erinnern uns bei dieser Gelegenheit, dass schon in der aristotelischen Kategorienlehre bei der Besprechung der achten Kategorie die HABEN -Beispiele mit Kleidungsstücken und Ausrüstungsgegenständen gleich am Anfang stehen (vgl. Kap. 1).
Es steht dabei außer Frage, dass die menschliche Kleidung oder auch Bekleidung ihren Sinn nicht darin erschöpft, dass sie «die Blöße bedeckt» und Schutz bietet gegen «die Unbilden der Witterung». Denn die Außenseite der Anziehsachen (manchmal auch deren Innenseite)wird ja, ob ihre Träger es wollen oder nicht, wahrgenommen als eine absichtliche oder unabsichtliche Botschaft an andere über die Art und Weise, «wie» man als Individuum oder Mitglied einer Gruppe innerlich IST oder SEIN WILL . So gibt es bei jeder Kleidung, auch wenn es nur «Klamotten» sind, außer dem HABEN im Kleiderschrank oder am Leibe auch ein HABEN für andere im Modus des Zeigens. Und das weiß natürlich jede und jeder oder sollte es doch wissen, denn auch wer sich nicht darum kümmern will, sendet mit seiner Kleidung eine Botschaft aus, die (als
dress code
) ziemlich leicht zu dekodieren ist. Selbst Uniformen und andere Arten von Dienstkleidung, die diesen Faktor minimieren sollen, setzen das HABEN FÜR ANDERE nicht außer Kraft und können es nur vergesellschaften. So gilt doch immer, was man vom Volksmund und von Gottfried Keller weiß: «Kleider machen Leute».
Nun will ich in diesem Buch, was den
Dress-Code
meiner Leser und Leserinnen betrifft, keine falsche Kennerschaft vortäuschen. Mit gehöriger Bescheidenheit möchte ich daher im Folgenden nur kurz noch die Aufmerksamkeit auf das Phänomen Schmuck lenken, dem der Soziologe Georg Simmel einen viel beachteten «Exkurs über den Schmuck» gewidmet hat[ 1 ]. Das ist ein knapp gefasster Text, der sich auch für die Kategorie HABEN als signifikant erweist. Es geht dem Autor nämlich in seiner Soziologie um die gesellschaftliche Bedeutung des Schmuckes, die nach seiner Auffassung in einer «Synthese des Habens und des Seins» besteht. Und diese kommt dann zustande, wenn im Tragen des Schmucks das HABEN-FÜR-ANDERE am Körper oder an der Kleidung auffällig wird und es auch werden soll mit der Absicht, so Simmel, «das HABEN der Persönlichkeit zu einer sichtbaren Qualität ihres SEINS werden zu lassen». Und so IST der Schmuck für ihn beides: HABEN für die andern und zugleich durch die aufmerksame Wahrnehmung durch die Anderen rückläufig auch HABEN für das Subjekt. Das eben macht den Schmuck zu einem doppelt wertvollen Besitz.
*
Doch auch beim Schmuck trügt nicht selten der Schein. Diese Erfahrung ist der Stoff, aus dem die Novelle
«La parure»
(«Der Schmuck») des französischen Schriftstellers Guy de Maupassant
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