Über das Haben
und HATTE kein Leibchen AN und fror: da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: «Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben», und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es so stand und GAR NICHTS MEHR HATTE , fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so HATTE es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.
Dies ist ein wunderbares, aber auch höchst eigenartiges Märchen in der Grimmschen Sammlung. Es ist ebenso zart erzählt, wie es gnadenlosseinen Lauf nimmt. Für das «Mädchen», so wird die kleine Heldin des Märchens genannt, beginnt die Lebensgeschichte, wie so oft bei den Brüdern Grimm, in bitterer Armut. Das arme Kind HAT seine Eltern verloren, und so HAT es auch sonst zum Leben nichts mehr. Es wird nicht einmal gesagt, ob das Kind überhaupt einen Namen HAT . Das ist das äußerste «Armutszeugnis», das ihm von den Märchenerzählern ausgestellt wird. Noch mehr Elend als dieses sollte eigentlich für ein Kind, das zudem «gut und fromm» IST , nicht vorstellbar sein.
Das arme Mädchen selber will es anders. Und so gerät es mit seinem eigenen guten Willen aus der tiefen noch in die allertiefste Not. Denn nun begegnen dem armen Kind mehrere andere Arme, die alle sein Mitleid erregen. So verteilt es an sie seine letzte HABE , die ihm noch geblieben ist, sogar sein letztes Hemd. Splitternackt und bloß steht das Kind zur Nachtzeit im Wald. Da erst, als dieses Kind GAR NICHTS MEHR HAT , ist aus der Heldin der Geschichte eine kleine Heilige geworden und aus dem Märchen eine Heiligenlegende. Und jetzt hat endlich auch der Himmel ein Einsehen. Unversehens fallen Sterne als blanke Taler vom Himmel, dem Mädchen in den Schoß, wo sie von einem mitgeschenkten neuen Hemd «aus feinstem Linnen» aufgefangen und eingesammelt werden können. Aus äußerster Armut ist das Kind über Nacht zu äußerstem Reichtum gelangt, genug und übergenug für «sein Lebtag».
Dies ist nun freilich für ein Heiligenleben ein überraschender Schluss. Es fällt ja nicht etwa Manna vom Himmel wie bei den frommen Israeliten. Und es geschieht kein himmlisches «Rosenwunder» wie bei den «richtigen» Heiligen, etwa der heiligen Dorothea von Caesarea oder der heiligen Elisabeth von Thüringen. Ganz irdische Geldstücke sind es, die dem Mädchen in den Schoß fallen. Und ein Ende dieses «Geldsegens» ist nicht abzusehen. Wird also vielleicht, wenn die Geschichte weitergedacht wird, doch keine Heilige aus dieser Heldin, sondern «nur» eine irdische Millionärin oder Milliardärin?
Eine Antwort auf diese Frage, die das Grimmsche Märchen zwar nicht seinen kleinen, wohl aber seinen großen Lesern schuldig bleibt, kann an der weiteren Rezeptionsgeschichte des Märchens abgelesen werden. Als erstes erhält nämlich das namenlose Waisenkind, das zu plötzlichem Reichtum gekommen ist, einen Namen. Es heißt nun so,wie der Name zu seinem Glücks-«Fall» passt, nämlich «Sterntaler». Und mit diesem Sternennamen bleibt es ihm nicht erspart, in unserer Konsumwelt ein «Star» der Werbung zu werden.
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Zum Kontrastvergleich mit den Brüdern Grimm begeben wir uns nun nach Dänemark. Denn auch in Hans Christian Andersens bekanntem Märchen von den neuen Kleidern des Kaisers geht es um die entweder bekleidete oder unbekleidete Körperlichkeit seiner kaiserlichen Majestät.[ 2 ] Man kennt die wunderbare Geschichte von diesem hohen Herrn, «der so ungeheuer viel auf hübsche Kleider hielt, dass er all sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein». Und so trägt er auch eines Tages in feierlicher Prozession die «unsichtbaren Kleider», die ihm zwei Betrüger als besonders feine Gewänder aufgeschwatzt haben. Natürlich werden «des Kaisers neue Kleider» vom Hofstaat und vom ganzen Volk gepriesen und bewundert. Die Leute wollen ja nicht für blind und dumm gehalten werden. Nur ein kleines Kind verlässt sich einfach auf seinen unverdorbenen Verstand und ruft arglos aus: «Aber er HAT ja nichts AN !». Nun ruft bald auch das ganze Volk:
«Han HAR jo ikke noget PÅ
!
»
Kommen jetzt also endlich Vernunft und Verstand zur Herrschaft im Andersenland? Davon
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