Über das Haben
krank». Es wird vielmehr als ihre familiäre und gesellschaftliche Pflicht angesehen, der Frage nachzugehen: Was HABE ich denn? Wenn nämlich jemand für seine Umwelt glaubhaft krank sein möchte und vielleicht auch den Anspruch erheben will, wegen des Störfalls in seinem Gesundheitszustand von der Arbeit fernzubleiben, dann gehört es sich in unserer Gesellschaft für diese Person, eine terminologisch bekannte Krankheit zu HABEN , die auch von den Autoritäten der Gesundheitsfürsorge fachlich und fachsprachlich anerkannt ist. Nur dann wird dieser Person zugestanden, dass sie sich ordnungsgemäß krank melden und gegebenenfalls von den Leistungen des sozialen Netzes Gebrauch machen kann.
Es wird somit von allen erwachsenen Kranken (stellvertretend auch für deren erkrankte Kinder) erwartet, dass sie im Krankheitsfall bestimmte normative Handlungszüge durchlaufen, deren Abfolge durch die Regelungen des Gesundheitswesens vorgegeben sind. Diese können an ihren markantesten Stationen jeweils mittels HABEN -Prädikationen gekennzeichnet werden, etwa nach folgendem Szenario:
Symptome: «Ich HABE Fieber/Husten/Schwindel/Gliederschmerzen.
Diagnose: «Sie HABEN Bronchitis/Angina/Grippe/Lungenentzündung.
Therapie: «Hier HABEN Sie ein Rezept/ein Attest/eine Überweisung.
Wenn nun alles gut geht, kann der Patient am Ende – immer noch mit den elementaren Ausdrucksmitteln von SEIN und HABEN – feststellen: «Ich BIN alle Beschwerden LOS » oder auch: «Ich HABE/KRIEGE das alles wieder WEG .»
Es versteht sich, dass ein schematisches Programm wie dieses nicht alle Stationen des Behandlungsweges angeben kann und dass diese auch nicht um jeden Preis ausschließlich mit den Ausdrucksmitteln von HABEN -Sätzen ausgedrückt zu werden brauchen. So kann etwa statt einer Eröffnungsfrage «Was HABEN Sie?» ein Arzt-Patienten-Dialog auch einsetzen mit der Frage: «Was FEHLT Ihnen?». Dann HAT der Kranke eben etwas NICHT , was er als Gesunder HAT .
In der Realität eines «normalen» Krankheitsverlaufs kann des weiteren nicht außer Betracht bleiben, dass im Allgemeinen zwischen einem Patienten in der Laienrolle und der ärztlichen Autorität ein beträchtliches Kompetenzgefälle besteht, das dem Patienten nicht selten ein zurückhaltendes und vorsichtig-tastendes Verhalten nahe legt. Ein Kranker kann dann etwa sagen: «Ich glaube, ich HAB’S an der Lunge». Das ist eine sehr charakteristische Redeweise, bei der in einem HABEN -Satz die Rolle des Habitus-Objekts provisorisch mit einem neutralen Pronomen («es», hier verkürzt zu «’s») besetzt ist. Als vage Vermutung wird dann der Körperteil angegeben, an dem die Krankheit ihren Sitz HABEN könnte. Auf diese Weise wird dem behandelnden Arzt die Lage des Habitus-Objekts offen gehalten für eine präzise Besetzung dieser Rolle mit dem «richtigen» Namen der Krankheit. Erst dann HAT der Kranke wirklich SEINE Krankheit und IST nunmehr Patient. Auch den gesellschaftlichen Instanzen gegenüber ist sein Zustand nun als ein beglaubigter Krankheitsfall dokumentiert. Allerdings ist damit für ihn zugleich die nicht nur private Verpflichtung verbunden, dass er seinerseits seine Rolle als Patient verantwortungsvoll annimmt und die ihm verschriebenen therapeutischen Maßnahmen, genau wie aufgelistet, ausführt (
«compliance»
).
Wenn nun am Ende alles gut ausgegangen ist, so darf der Ex-Patient (etwas ungrammatisch, weil mit einer eigentlich nicht zulässigen Passivform gebildet) ausrufen: « GEHABTE Schmerzen, die HAB ’ ich gern.» Sollte aber alles nicht geholfen haben, so bleibt als letzter Trost einAphorismus des Göttinger Gelehrten Georg Christoph Lichtenberg (der selber von Geburt mit einem Buckel lebte): «Sobald einer ein Gebrechen HAT , so HAT er auch eine eigene Meinung.»
*
Zum Abschluss dieses Kapitels soll noch daran erinnert werden, dass in den Grenzbereichen von Gesundheit und Krankheit nicht wenige merkwürdige, weil normwidrige Sonderfälle zu verzeichnen sind, für die sich besonders die Literatur interessiert. So gibt es den Simulanten, der eine Krankheit vorspielt, die er gar nicht HAT (Ben Jonson: «
Volpone
»), und es gibt den Hypochonder, der als «eingebildeter Kranker» (Molière:
«Le malade imaginaire»
) alle Krankheiten der Welt nicht nur HAT , sondern sie auch alle GERN HAT . Und schließlich gibt es in einem bekannten Roman von Thomas Mann sogar den doppelt interessanten Fall eines Hochstaplers, der gleichzeitig Krankheit und Gesundheit
Weitere Kostenlose Bücher