Über das Haben
weiblichen Person, die mit einer charakteristischen Tätigkeit, beispielsweise dem Lesen eines Buches oder Briefes, beschäftigt ist. Ein solches Bild ist auch Vermeers Gemälde «Die Goldwägerin», das in der National Gallery of Art in Washington hängt. Vordem gehörte es zu der Sammlung des ersten bayerischen Königs Max I. Joseph, der es aber verkaufte. Im Jahre 2011ist es als Leihgabe für eine Vermeer-Ausstellung nach Bayern zurückgewandert und in München mit einhelliger Bewunderung begrüßt worden.[ 3 ]
Das Bild ist relativ kleinformatig (40,3 × 50,6 cm) und zeigt im Halbprofil eine junge Frau, die in einem Raum ihres gepflegten Bürgerhauses im Begriff steht, den Wert ihres persönlichen Besitzes an Schmuck und Münzen mit Hilfe einer kleinen Goldwaage zu bestimmen. In Szenen dieser Art, die seit dem 19. Jahrhundert als «Genre-Malerei» bezeichnet werden, zeigte das prosperierende Bürgertum der niederländischen Provinzen gerne seine Kultur, aber auch seinen gepflegten Besitz in der doppelten Gestalt der unbeweglichen und der beweglichen HABE (
res immobilis, res mobilis
). Wir können daher dieses Bild als gemaltes HABEN verstehen.
In welcher Sprache aber spricht diese Kunst? Nächst der Theologie, deren Sprache die mittelalterliche Kunst beherrscht hatte, ist es in der Barockzeit in zunehmendem Maße auch die Sprache der Philosophie. Damit ist damals in erster Linie immer noch Aristoteles gemeint. Und bei ihm sind es nach wie vor die Kategorien, von denen viele Anregungen nun auch für die Kunst ausgegangen sind.
Das ist wiederum besonders ausdrücklich in Italien geschehen, genauer gesagt in Turin, wo als Prediger und Prinzenerzieher der Jesuit Emanuele Tesauro (1592–1675) wirkte. Er ist der Autor eines in Europa weit verbreiteten Werkes zur literarischen Rhetorik, die bei ihm mit Blick auf den «göttlichen Aristoteles» (
divino Aristotele
) methodisch neu konzipiert wird. Der Titel des Werkes von Tesauro lautet: «Das aristotelische Fernrohr» (
Il Cannocchiale Aristotelico
, 1654). Das ist insofern ein spektakulärer Titel, als das Fernrohr erst Anfang des 17. Jahrhunderts erfunden worden ist. Kein Wunder also, dass diese «weitblickende» Rhetorik auch auf die bildenden Künste dieses Zeitalters eine starke Wirkung ausgeübt hat.[ 4 ]
Für die Thematik dieses Buches und für seine Kunstlehre ist von besonderer Bedeutung, dass Tesauro seine neue Kunsttheorie ausdrücklich kategorial konzipiert hat. Dabei ist durch eine kleine Umorganisation der aristotelischen Kategorientafel die Kategorie HABEN (ital.
avere,
bei Tesauro
havere
neben
habito
) vom achten auf den zehnten Platz zurückversetzt worden. Doch bildet sie an dieser Stelle keineswegsein Schlusslicht, sondern gilt als «die scharfsinnigste und schönste aller Kategorien» (
argutissima e bellissima sopra l’altre
). Das müssen die Meister der barocken Malkunst nicht wörtlich so in den Büchern von Ripa oder Tesauro gelesen haben. Denn mit dem Fernrohr und anderen Instrumenten der Wissenschaft wanderten manche Gedanken auch ohne das Substrat eines Buches durch Europa, und somit auch in die Niederlande. Mit dem aristotelischen Fernrohr betrachtet, erweist sich jedenfalls gerade die Kategorienlehre, und mit ihr die Kategorie haben, als eine reich fließende Quelle für den engen Zusammenhalt zwischen der Philosophie, der Literatur und den bildenden Künsten im Barockzeitalter.
*
Nach den Regeln dieser Bildlesekunst sehen oder lesen wir nun in Vermeers Genre-Bild, wie die Goldwägerin ihr Leben lebt. Das HAB UND GUT (niederl.
have en goed, hebben en houden
) dieser offenbar wohlhabenden Frau besteht in erster Linie aus dem Wohnhaus, das sie zur Verfügung HAT , mit dem gepflegten Interieur, in dem sie ihrer Muße oder Beschäftigung nachgehen kann. Auffällig ist sodann die vornehme Kleidung, die sie auch im Haus am Leibe HAT (niederl.
aan her lijf heeft
): ein dunkelbraunes Gewand, darüber ein dunkelblauer Überwurf mit weißem Pelzbesatz sowie eine helle Haube, mit der sie – wohl als Zeichen ihres Standes als verheiratete Frau – auch im Hausinnern ihr Haar bedeckt HAT . Der Pelzbesatz gibt den Blick frei auf ihren gewölbten Leib. Allem Anschein nach IST die Frau schwanger.
Ihren Schmuck trägt diese Bürgersfrau in der Wohnung nicht. Wohl aber befinden sich allerlei Schmuckgegenstände in ihrem Besitz. Die Schatullen, in denen diese für gewöhnlich aufbewahrt werden, liegen geöffnet vor ihr auf dem Tisch, so dass
Weitere Kostenlose Bücher