Über das Haben
der Zuschauer anschauen kann, was sie alles in ihrem Besitz HAT : mindestens drei Perlenketten, mehrere Goldmünzen und ein paar weitere «Stangen» Geldes, vielleicht Silbermünzen. Und für diesen Schmuck HAT sie eine eigene Feinwaage, die zu benutzen sie wahrscheinlich öfter Gelegenheit HAT . Die geeichten Gewichte, die nicht fehlen dürfen, da sie beim Auswiegen der Perlen und Münzen deren Wert bestimmen, sind nicht sichtbar. Im Zeitmoment des Bildes ist die Wägerin noch damit beschäftigt, dieleeren Waagschalen sorgfältig zu ponderieren. Dabei zeigt ihre Physiognomie bereits einen Ausdruck stillen Behagens, der darauf hindeutet, dass sie mit ihrem häuslichen Befinden, zu dem außer diesen Sachwerten gewiss auch ihre Schwangerschaft gehört, voll einverstanden ist. Diese Frau kann ihr Frauenleben unbesorgt – in der Metaphorik von Cesare Ripa und Emanuele Tesauro – «auf die Goldwaage legen» (niederl.
op de goudschaltje leggen
).
Das innige Einvernehmen, das offenbar zwischen der jungen Frau und ihrer häuslichen Umwelt besteht, wird von Vermeer mit den reichen Mitteln seiner Malkunst zur vollen Geltung gebracht. Dazu dienen sowohl die satten Farben der Kleidung als auch vor allem die Kunstmittel der Lichtmalerei, für die dieser Maler in der Geschichte der niederländischen Malerei berühmt ist. So fällt in Vermeers Bildnis durch das nur im Abglanz sichtbare Fenster zur Linken ein heller Lichtstrahl diagonal auf das Zentrum der Szene mit der kostbaren HABE , die sich auf dem Tisch zusammendrängt. Auch den vorgewölbten Leib der Schwangeren hat die Lichtregie nicht ausgespart. So ist das gebündelte Licht dieser Szene ein emblematisches Ja zu der zentralen Thematik des Bildes. Der Betrachter soll vor allem verstehen, dass diese Frau sich mit dem, was sie IST , und mit dem, was sie HAT , im schönsten Gleichgewicht befindet.
In dieser Lesart des Bildes können wir uns bestärkt sehen durch die eindrucksvolle Würdigung, die der Kunst der Genre-Malerei an einer unvermuteten Stelle in Arthur Schopenhauers großem Werk «Die Welt als Wille und Vorstellung» (1818) zuteil geworden ist.[ 5 ] Der Text liest sich wie eine Beschreibung unseres Bildes, wenn der Philosoph, allerdings ohne Vermeer persönlich zu nennen, davon spricht, dass in der Genre-Malerei bei den «vortrefflichen Malern der Niederländischen Schule» Situationen des alltäglichen Lebens zu Szenen von großer innerer Bedeutsamkeit werden können, sofern sie so gemalt sind, dass «eine leise, eigentümliche Rührung» von ihnen ausgeht. Doch nicht nur das. Schopenhauer schreibt dieser Kunst auch, wenn sie ihre häuslichen Gegenstände in ein helles und deutliches Licht rückt, das kunstvolle Vermögen zu, ein Einzelnes so vorzustellen, dass an ihm «eine vielseitige Idee der Menschheit» aufleuchten kann. Der Philosoph lässt in diesem Zusammenhang keinen Zweifel daran, dass er dieim 17. Jahrhundert blühende Genre-Kunst der Niederländer bei weitem jener älteren Malerei vorzieht, in deren Repertoire nur die «Vorfälle aus der Weltgeschichte oder Biblischen Historie» als bedeutsam angesehen werden.
Mit dieser sehr entschiedenen kunstästhetischen Parteinahme Schopenhauers im Sinn wollen wir noch einmal zu Vermeer zurückkehren. Denn auch auf seinem Bild fehlt die von dem Philosophen zitierte Gegenbildlichkeit nicht. Das ist das großformatig vorzustellende Historienbild «Christus als Weltenrichter», das man im Hintergrund der hier besprochenen häuslichen Szene sehen kann. Als «Bild im Bild» ist es perspektivisch stark verkleinert. Es ist überdies nur schwach angeleuchtet und wird von der Frauengestalt im Vordergrund zur Hälfte verdeckt. Immerhin kann der Betrachter die Thematik des Weltgerichts nach Matthäus 25, 31–46 erkennen. Zu dieser Gerichtsszene gehört eigentlich der Erzengel Michael mit der Seelenwaage, auf der die gottgefälligen Taten der Guten gegen die Sünden und Laster der Bösen abgewogen werden. Das wäre also die zweite Waage dieses Bildes, eine Grobwaage im Gegensatz zur Feinwaage in der Hand der Frau. Aber diesen Erzengel und seine Seelenwaage sieht man nicht. Und während auf der einen Seite des Bildes, zur Rechten des Weltenrichters, die Himmelfahrt der Gerechten deutlich zu erkennen ist, bleibt zu seiner Linken der Höllensturz der Sünder zum größeren Teil unsichtbar.
Unter diesen Umständen lese ich, gestützt auch auf Schopenhauers kunstästhetische Argumente, Vermeers Bild von der Goldwägerin,
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