Über das Haben
simuliert. Dem Autor dieses ironisch-humoristischen Romans hat es nämlich gefallen, seinen Helden, einen jungen Mann mit Namen Felix Krull, einer militärischen Musterung auszusetzen. Der Romanheld, ein begnadeter Zivilist, besteht diese Prüfung mit Bravour und WIRD ausgemustert.[ 4 ]
In Thomas Manns Romanszene der Musterung müssen wir uns den Helden des Romans vorstellen, wie er splitternackt vor der Musterungskommission steht. Doch ist er zum Glück mit einer blühenden Sprachphantasie ausgestattet, so dass er seine Blöße mit vielen blumigen Worten bedecken kann. Bedient er sich dabei vielleicht auch der Kategorie HABEN , um sein unmilitärisches Musterungsziel zu erreichen? Danach sieht es zunächst nicht aus. Wider alle Normen einer militärischen Musterung wird das Gespräch nicht durch den Militärarzt, sondern durch den Musterungskandidaten selber eröffnet, und zwar mit der Feststellung: «Ich BIN vollkommen diensttauglich».
In den Augen des Militärarztes ist dieser Satz eine Unverschämtheit und Amtsanmaßung, da es nur ihm selber zusteht, gegebenenfalls die Tauglichkeit des zukünftigen Rekruten zu verkünden. Dem Militärarzt darf nämlich nicht entgehen, dass dieser Dienstpflichtige vielleicht verborgene Krankheiten hat, die ihn für den Waffendienst ungeeigneterscheinen lassen. Tatsächlich treten bei dem Kandidaten Felix Krull in zunehmendem Maße allerhand Zuckungen der Gesichtsmuskeln auf, die auf einen solchen Befund hindeuten. Doch werden sie wiederholt begleitet von der Beteuerung: «Ich BIN ganz gesund».
Bei dem Militärarzt zeigt sich gegenüber diesen Symptomen eine gewisse Ratlosigkeit. Immerhin geht er nun, wie es zu den Üblichkeiten seines Berufsbildes gehört, zur Anamnese über, wobei er sich des Perfekts bedient: HABEN Sie schwere Krankheiten überstanden?» Und weiter: « HABEN Sie Ihrem Hausarzt […] niemals etwas von diesen kleinen Unregelmäßigkeiten erzählt?» Auf das Stichwort Erzählung, verbunden mit der Aufmunterung: « HABEN Sie keine Scheu!», hat unser Zivilist nur gewartet. In «ausschweifender und träumerischer Rede» hebt er sogleich, indem er in das Erzähltempus Präteritum übergeht, zu einer längeren Erzählung aus seiner Jugend- und Schulzeit an: «Ich durchlief sechs Klassen der Oberrealschule (…) und blieb in der Schule zurück». Und manch weiteres «Ungemach» hat seine Jugend überschattet: «Der Ruin HATTE mit hartem Knöchel an unsere Tür geklopft». Während dieser Erzählung kann der Militärarzt bei dem Musterungskandidaten beobachten, wie sich dessen Gesicht bei so schmerzlichen Erinnerungen wie im Krampf verzerrt.
Nun ist für den Militärarzt ein deutliches Krankheitsbild gegeben. Von einer ordentlichen Einberufung zum Militär kann nicht mehr die Rede sein: «Sie SIND ausgemustert.» Felix Krull IST offenbar ein Psychopath. Er IST nur in seiner Einbildung ein Gesunder. Für einen solchen Patienten gilt: «Die Kaserne IST keine Heilanstalt.»
Die Szene hat ein kleines Nachspiel. Beim Herausgehen bemerkt ein assistierender Unteroffizier anerkennend zu dem Hochstapler: «Schade um Sie, Sie HÄTTEN es zu was bringen können beim Militär. (…) Sie HABEN das Zeug auf den ersten Blick.»
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SPLITTERNACKT IM MÄRCHEN – SO HABEN ES DIE BRÜDER GRIMM UND HANS CHRISTIAN ANDERSEN
«Es war einmal …». Dass so die schönsten Märchen anfangen, weiß jedes Kind. Und so beginnt auch das Märchen «Die Sterntaler». Es lohnt sich, den Text hier ungekürzt wiederzugeben, da er seine kleinen und großen Leser von der ersten bis zur letzten Zeile überraschen kann[ 1 ].
Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerlein mehr HATTE , darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: «Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig.» Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: «Gott segne dir’s», und ging weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: «Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann.» Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind
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