Über das Haben
(1850–1893)gemacht ist.[ 2 ] In dieser berühmten, wenn auch etwas melodramatisch konzipierten Novelle ist Monsieur Loisel ein kleinbürgerlicher Angestellter im Schulministerium. Seine ansehnliche Frau, Madame Loisel, träumt immer noch ihre Jugendträume von Glanz und Glamour in der Pariser Gesellschaft. Mit viel Mühe gelingt es dem einfühlsamen Ehemann, für das Paar die Einladung des Ministers zu einem großen Ball zu erhalten. Lebhafte Freude des Mannes, Verzweiflung der Frau: Sie HAT KEIN Ballkleid, KEINEN Schmuck, NICHTS , was ihr in der eleganten Gesellschaft eine Demütigung ersparen könnte. Für ein schönes Ballkleid macht Monsieur Loisel die letzten Ersparnisse locker. Aber ohne Schmuck kann Madame Loisel sich nicht auf das Parkett wagen. Glücklicher Einfall: Sie HAT eine reiche Schulfreundin, Madame Forestier. Von ihr kann sie sich eine Halskette leihen, mit der sie auf dem Ball glänzt (
Mme Loisel EUT un succès
).
Beseligt kehrt das Paar vom Ballsaal heim – «doch plötzlich …». «Was HAST du?», fragt der Ehemann besorgt. «Ich HABE … ich HABE … ich HABE die Kette von Madame Forestier NICHT MEHR » [
J’ AI … j’ AI … Je n’ AI PLUS …
]. Verzweifelt machen sich die beiden klar, dass es sich um jeden Preis gehört, für den wertvollen Schmuck einen möglichst ähnlichen Ersatz herbeizuschaffen, der unauffällig zurückgegeben werden kann. Und so nehmen sie zu Wucherpreisen einen hohen Kredit auf und geben den dafür erworbenen Schmuck an die Eigentümerin zurück. Der Tausch wird nicht bemerkt. Unter dem Druck ihrer gewaltigen Verschuldung müssen aber nun die Loisel auch auf die kleinsten Annehmlichkeiten ihres bescheidenen Lebens verzichten, und sie schuften zehn Jahre lang bis weit über ihre Kräfte nur für die Rückzahlung des Kredits mitsamt allen Zinsen und Zinseszinsen.
Endlich ist das Ziel erreicht. In ihrer Verelendung kaum noch erkennbar, kann Madame Loisel ihrer Freundin den Schmucktausch beichten. «Das ist uns nicht leicht gefallen, wir HATTEN ja NICHTS » [
nous, qui n’ AVIONS RIEN
]. Unverständnis und Entsetzen bei der Freundin: Der Schmuck war doch nur eine Nachahmung, fast ohne Wert.
Ob Madame Loisels wohlhabende Freundin außer der Nachahmung selber noch den echten Schmuck gehabt hat oder nur die Imitation, wird in der Novelle nicht berichtet.
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HABEN WIE GEMALT – MIT VERMEER VAN DELFT
Bevor hier von der Malkunst des Vermeer van Delft die Rede sein wird, ist kurz zu erörtern, welches in der Ästhetik des Barockzeitalters die Bedingungen sind, unter denen sich in Europa Philosophen und Literaten verbunden haben, um die bildenden Künste zu einigen ihrer schönsten Werke zu inspirieren. Sie haben es insbesondere verstanden, den Bildern eine Stimme zu geben, die von den Betrachtern als Rede verstanden werden kann.
Ist es überhaupt vorstellbar, ein Bild zum Sprechen zu bringen? Ja, das ist seit ältesten Zeiten üblich. Denn schon von dem altgriechischen Dichter Simonides (um 500 v. Chr.) ist überliefert, dass er die Malerei eine schweigende Dichtung, die Dichtung eine redende Malerei genannt hat. Darauf hat auch Horaz sein oft zitiertes Wort gemünzt: «Wie die Malerei, so die Dichtung (
ut pictura poesis
)». Auf diesem Dictum beruht ferner die «Ikonologie» (1593) des italienischen Kunsttheoretikers Cesare Ripa, die 1644 auch in niederländischer Übersetzung erschienen ist[ 1 ]. Die europaweite Resonanz dieses Werkes, einer umfassenden und lexikographisch reich dokumentierten «Bildlesekunst», war so stark, dass ein heutiger Kunsthistoriker aus den Niederlanden, Eddy de Jongh, einer Studie den Titel geben konnte: «Die Sprachlichkeit der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts». Es konnte diesem Kritiker zufolge von den zeitgenössischen Betrachtern ohne weiteres erwartet werden, dass sie imstande waren, «das Wort sozusagen aus dem Bild herauszufiltern».[ 2 ]
*
Diesen Anspruch stellt an ihre Betrachter auch die Malkunst des niederländischen Malers Johannes Vermeer (1632–1675), der zu seinen Lebzeiten in seiner Vaterstadt Delft ein hohes Ansehen genoss. Nacheiner Zeit des Vergessens ist sein Werk im 19. Jahrhundert unvermutet wieder entdeckt worden. Heute wird es weltweit zu den größten Hervorbringungen der niederländischen Kunst gerechnet.
Jan Vermeer,
Die Goldwägerin,
1662–1664
Ein besonders beliebtes Thema dieser Malerei ist im 17. Jahrhundert das häusliche Interieur, belebt von einer meistens
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