Über das Sterben
eines Menschen verstanden werden, mit dem er Erfahrungen des Lebens und insbesondere auch existentiellen Bedrohungen zu begegnen versucht.» In diesem Definitionsversuch wird deutlich, dass Spiritualität eine hochpersönliche (
«innere»
) Angelegenheit ist, etwas mit Lebenssinn zu tun hat und in schwersten Situationen (
«existentielle Bedrohungen»
) eine Ressource für den Einzelnen sein kann. Diese Ressource zu aktivieren, sie für die Patienten und ihre Familien erfahrbar zu machen, ist eines der wichtigsten Ziele der spirituellen Begleitung am Lebensende.
Spiritualität, Wertvorstellungen und Lebenssinn
Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen haben auf die Bedeutung von Wertvorstellungen und des Konzepts des Lebenssinns am Lebensende sowie deren Beziehungen zur Spiritualität hingewiesen.
Der Psychotherapeut Martin Fegg führte 2008 eine Untersuchung über die Wertvorstellungen Sterbender durch. Dabei verwendete er einen Fragebogen, dessen Aussagekraft an über 20.000 Menschen auf der ganzen Welt getestet wurde.[ 11 ] Er erfasst universelle Grundwerte, die sich in so gut wie allen Kulturen wiederfinden lassen. Eine der beiden Achsen diesesFragebogens betrifft die selbstbezogenen Werte (Macht, Genuss, Selbstverwirklichung) im Gegensatz zu den altruistischen Werten wie Universalismus (um das Schicksal der Welt besorgt sein) und Benevolenz (Gutes für andere wünschen). Die Ergebnisse zeigen eindrucksvoll, dass Menschen, die den Tod vor Augen haben, die Wichtigkeit der anderen entdecken: Bei
allen
getesteten schwerstkranken Menschen lässt sich, unabhängig von ihrer Religion oder der Art ihrer Krankheit, eine Verschiebung ihrer persönlichen Wertvorstellungen hin zum Altruismus beobachten – in starkem Gegensatz zur «gesunden» Allgemeinbevölkerung. Die Ursachen hierfür liegen vermutlich im stattgefundenen Prozess der Krankheitsbewältigung wie auch in dem Prioritätenwandel, der mit steigendem Lebensalter erfolgt (siehe unten). Die Belohnung dafür ist eine höhere Lebensqualität trotz schwerster Erkrankung und begrenzter Lebenserwartung.
Wie verschiedene wissenschaftliche Studien zeigen, kommt es für die Lebensqualität am Lebensende nicht auf die physische Funktionsfähigkeit an.[ 12 ] Die Ergebnisse zu den Wertvorstellungen Schwerstkranker legen nahe, dass die Menschen im Angesicht des Todes erkennen, worauf es wirklich ankommt. Dabei stellt der Wandel der Wertvorstellungen in Richtung Altruismus einen Schritt «aus sich selbst heraus» dar, weshalb diese Werte auch als «selbsttranszendent» bezeichnet werden.
In einer weiteren Untersuchungsreihe zeigte Martin Fegg die Verteilung der sinngebenden Bereiche in der Allgemeinbevölkerung für Menschen verschiedener Altersstufen. Die Daten wurden mittels der eigens dafür entwickelten «Skala für die Erfassung des individuellen Lebenssinns» (
Schedule for Meaning in Life Evaluation
, SMiLE) erhoben und sind graphisch in Abbildung 4.2 dargestellt.
Abbildung 4.2: Sinnstiftende Bereiche und durchschnittliche Zufriedenheit mit dem eigenen Lebenssinn in der deutschen Allgemeinbevölkerung in Abhängigkeit von den Altersstufen.
[ 13 ]
Spannend ist die Feststellung, dass sich die sattsam bekannte
midlife crisis
in dieser Erhebung sehr gut als Sinnkrise in der Lebensmitte abbildet, und zwar genau dann, wenn die Arbeit die höchste Lebenspriorität darstellt. Die gute Nachricht: Mit dem Alter wird es besser, es treten andere Bereiche in den Vordergrund, darunter Altruismus (siehe oben), Natur und Spiritualität. Die Zufriedenheit mit dem eigenen Lebenssinn steigt wieder auf die gleichen Werte wie in der Jugend – trotz deutlich geringerer Lebenserwartung.
Aus diesen Daten lässt sich die Bedeutung von Spiritualität als potentiell sinngebender Bereich am Lebensende sehr gut erkennen. Aufgabe der verschiedenen Berufsgruppen in der Palliativ- und Hospizbetreuung ist es, diese Ressource zu aktivieren, wenn sie für die betroffenen Menschen von Nutzen sein kann.
Die Rolle der Ärzte
In Psalm 90 steht der bemerkenswerte Satz: «Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.» Auch der Buddha sagte: «Von allen Meditationen ist die über den Tod die höchste.» Wenn man über den Tod nachdenkt, tauchen spirituelle Themen wie von selbst auf. Wir haben dazu eine Untersuchung gemacht: Wenn in der Klinik ein Patient gefragt wird: «Möchten Sie mit dem Seelsorger sprechen?», ist die häufigste Antwort: «Ist es denn schon so weit
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