Über das Sterben
Muskelschwund und Lähmungen, die in zwei bis drei Jahren zum Tode durch Atemlähmung führt. Bei seinem ersten Besuch in unserer Ambulanz war die Erkrankung schon fortgeschritten, seine Arme und Beine waren fast vollständig gelähmt, und er war somit das, was man hierzulande für gewöhnlich einen «Pflegefall» nennt. Umso mehr erstaunten mich seine Ruhe und friedvolle Ausstrahlung. Seine Sprechfähigkeit war noch intakt, und er erzählte mir, dass er nach der Diagnose eine schwere Depression mit Suizidgedanken durchlitten hatte. Auf Anraten eines Freundes hatte er sich daraufhin der Meditation zugewandt, und das hatte seine Einstellung zum Leben grundlegend verändert. «Wissen Sie», sagte er mir einmal, «so komisch es klingt, aber ich meine, dass meine Lebensqualität heute besser ist als vor der Erkrankung, trotz meiner schweren Behinderung. Damals hatte ich keine Zeit, war erfolgreich und gestresst. Jetzt habe ich viel Zeit und habe vor allem gelernt, in dieser Zeit zu leben, einfach da zu sein.»
Als erste Reaktion würde mancher an der psychischen Gesundheit dieses Menschen zu zweifeln beginnen. Wie in aller Welt kann man sagen, dass man mit ALS glücklicher ist als ohne? Für viele Ärzte, die die Krankheit kennen, wäre die Diagnose ALS ein Grund zum sofortigen Suizid. Genau genommen stellt eine solche Aussage unser gesamtes Wertesystem als Mediziner, unsere Heilungs- und Handlungsethik in Frage und muss deshalb sofort als krankhaft deklariert werden. Nur, Herr M. zeigte keinerlei Anzeichen einer psychischen Erkrankung. Er war sehr entspannt, und man konnte feststellen, dass er versuchte, die Gesprächssituation für alle so angenehm wie möglich zu gestalten. In einem weiteren Gespräch stellte er fest, dass er sich in der Tat nicht unbedingt «glücklicher» fühlte im allgemeinen Sinne des Wortes. Seine Behinderung, seine fortschreitende Atemlähmung, die Angst, seine Sprechfähigkeit zu verlieren, das alles war ihm sehr wohl schmerzhaft bewusst. «Aber», sagte er, «genau das ist es, worum es geht: Bewusstheit. Wenigstens bin ich mir jetzt dessen bewusst, was ich erlebe, was ich früher nicht war, und kann daher auch kleine Freuden viel intensiver genießen.»
Es sollte fairerweise nicht verschwiegen werden, dass die finanzielle Situation von Herrn M. und seiner Familie ziemlich gut war und er sich daher eine professionelle Rund-um-die-Uhr-Pflege leisten konnte. Aber das war nicht annähernd ausreichend, um sein bewundernswertes inneres Gleichgewicht zu erklären. Viele Patienten mit ähnlich guten ökonomischen Voraussetzungen sind nicht in der Lage, mit ihrer Krankheit auch nur einigermaßen gut zurechtzukommen. Herr M. war der erste Patient, den ich kennenlernte, der Meditation als eine Methode der Krankheitsbewältigung einsetzte.
Herr M. wurde in den letzten Monaten zu Hause während der Nacht über eine Maske beatmet. Er entschied sich, die Heimbeatmung zu beenden, als die Krankheit so weit fortgeschritten war, dass er auch während des Tages beatmungspflichtig wurde. Eine Dauerbeatmung über einen Luftröhrenschnitt lehnte er entschieden ab. Wir organisierten die Verlegung auf eine Palliativstation, um sicherzustellen, dass er ausreichend Medikamente zur Linderung der Atemnot in der Sterbephase bekommen würde. Zur großen Überraschung des gesamten Palliativteams sank Herr M., nachdem er sich von seiner Frau und seiner Familie verabschiedet hatte, in einen tiefen Schlaf, von dort ins Koma und starb friedlich und ohne Atemnot wenige Stunden später. Auch durch seinen Tod hat Herr M. ein Zeichen gesetzt: Die Zusammenarbeit unserer ALS-Ambulanz mit dieser Palliativstation, die bis dahin ALS-Patienten nur sehr zurückhaltend aufgenommen hat, besonders wenn sie heimbeatmet waren, ist seitdem hervorragend.
Auch wenn die persönliche Entwicklung von Herrn M. sicher eine besondere war, ist er kein Einzelfall. Frau H., eine 49-jährige ALS-Patientin, erzählte uns vor einigen Jahren, dass sie schon vor dem Ausbruch der Krankheit meditiert habe. Seit der Diagnose sei ihre Meditationspraxis allerdings deutlich intensiver geworden. Es war uns aufgefallen, dass sie einen sehr pragmatischen Zugang zu ihrer Krankheit hatte und dass sie bei den Treffen der Selbsthilfegruppe einen positiven Einfluss auf andere Patienten ausübte. Inzwischen hat Frau H. selbst die Leitung einer Patientengruppe übernommen und ihren Mitpatienten eine Einweisung in Meditationstechnik angeboten, die sehr gut angekommen
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