Über das Sterben
dokumentierten Kontakten), dass in allen Fällen ein zumeist längeres Gespräch stattfand, aber nur in 55 Prozent der Fälle ein Ritual (einschließlich Gebet oder Segen) vollzogenwurde. Interessanterweise wurden nie Rituale durchgeführt, wenn der Kontakt ausschließlich mit den Angehörigen (ohne Patient) stattfand.[ 16 ] Art und Spektrum der Seelsorgearbeit sind mithin derzeit einem starken Wandel unterworfen, der auch mit einer Ausweitung der geforderten Kompetenzen im interreligiösen und multiprofessionellen Dialog einhergeht.
Die Rolle des Teams
Spiritualität ist Teamarbeit – das wird einem in der Arbeit mit Schwerstkranken und Sterbenden immer wieder vor Augen geführt. Dazu gehört zunächst die Reflexion der Teammitglieder über ihre eigene Spiritualität als wesentliche Voraussetzung für ihre Arbeit in diesem Bereich. Ein Spiritual-Care-Kurs, bei dem es hauptsächlich um diesen Aspekt ging, konnte sowohl das spirituelle Wohlbefinden der Teilnehmer als auch ihre Einstellung zur eigenen Arbeit und zu den Kollegen nachhaltig verbessern.[ 17 ]
Es sind oft beiläufige Andeutungen, Halbsätze oder Traumerzählungen, die über die spirituellen Nöte und Bedürfnisse eines Patienten am besten Auskunft geben, und es ist auch keineswegs immer ein und dieselbe Person, an die sich diese Mitteilungen richten. Erst in der Gesamtschau ergeben die mehr oder minder versteckten Hinweise plötzlich einen Sinn. Die Wahrnehmung dieser Signale ist Aufgabe aller Mitarbeiter im Palliativteam. Entsprechend ist Spiritual Care nicht nur Aufgabe der Seelsorger, sondern des gesamten Teams. Der Patient sucht sich die Person aus, von der er spirituell begleitet werden möchte. Das kann die Krankenschwester, der Psychologe, die Hospizhelferin, der Seelsorger oder auch der Arztsein. Und manchmal sind die Rollengrenzen nicht ganz scharf definiert, wie die folgende kleine Geschichte zeigt.
Frau W., eine 87-jährige Patientin mit Brustkrebs im Endstadium, die ich wegen «Unruhe» sehen sollte, entpuppte sich bei der Untersuchung als eine charmante, zierliche alte Dame ohne akute physische Beschwerden und mit exzellenter Symptomkontrolle. Als ich sie über ihre Ängste befragte, erzählte sie, dass sie eine furchtbare Angst vor dem Sterben und vor dem habe, was möglicherweise danach kommen könnte. Innerhalb einer Stunde erzählte sie mir daraufhin ihr gesamtes Leben, und ich hörte ihr zu, ohne ihren Monolog zu unterbrechen. Danach war sie etwas ruhiger, und wir verabschiedeten uns. Ich hatte bei dem Besuch natürlich alle Insignien getragen, die auf meinen Beruf hinwiesen, den weißen Kittel mit dem Namenszug, das Stethoskop usw. Als aber am Nachmittag der für die Station zuständige Seelsorger seine Runde drehte, begrüßte sie ihn mit den Worten: «Sie brauchen heit net kemma, der Herr Pfarrer war scho do.»[ 18 ]
Das ist eine Anekdote, die zum Schmunzeln anregt. Auf den zweiten Blick stellt sich allerdings die Frage, was es über unser Gesundheitssystem aussagt, wenn ein Arzt, der nichts anderes tut, als zuzuhören, von der Patientin unbewusst in einen anderen Beruf transferiert werden muss, weil dieses Verhalten offenbar mit ihrem Konzept eines Arztes – zumal in einem Universitätsklinikum – nicht in Einklang zu bringen ist.
Schlussbemerkung
Eine der wichtigsten Botschaften von Spiritual Care lautet:
Was uns allen zu wünschen ist, ist ein nüchterner und gelassener Blick auf die eigene Endlichkeit.
Dies erfordert eine ruhige und wiederholte Reflexion über unsere Prioritäten, unsere Wertvorstellungen, unsere Überzeugungen und unsere Hoffnungen, am besten im Dialog mit den Menschen, die uns am nächsten stehen. Das passiert leider im Leben eher selten, und wenn, dann oft sehr spät. Nehmen wir uns hier und jetzt die Zeit dafür.[ 19 ] Als Motto dieser Reflexion und als Erinnerung daran kann vielleicht der uralte Ruf dienen, der am Ende eines jeden Tages, nach der allerletzten Meditation, in den Zen-Klöstern erschallt:
Eines lege ich euch allen ans Herz:
Leben und Tod sind eine ernste Sache.
Schnell vergehen alle Dinge.
Seid ganz wach,
niemals achtlos,
niemals nachlässig.
5
Meditation und schwere Krankheit
With all your science can you tell
how it is, and whence it is,
that light comes into the soul?[ 1 ]
Henry David Thoreau (1817–1862)
Herr M. war ein erfolgreicher Geschäftsmann, bevor er mit 48 Jahren an amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankte. Die ALS ist eine unheilbare Krankheit mit fortschreitendem
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