Über das Sterben
deutliche Beeinträchtigungen im Alltagsleben über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten oder gar selbstzerstörerische Impulse auftreten, ist von einer erschwerten Trauer auszugehen, die einer psychotherapeutischen Begleitung bedarf. Zu den Hauptrisikofaktoren für komplizierte Trauerverläufe gehören der Tod eines eigenen Kindes, ein plötzlicher Tod, mehrere Trauerfälle innerhalb kurzer Zeit und der Tod durch Suizid.
Nach J. William Worden[ 10 ] haben Trauernde vier Hauptaufgaben zu bewältigen:
1. den Verlust als Realität akzeptieren,
2. den Trauerschmerz erfahren und durchleben,
3. die Anpassung an eine Umwelt, in der das Verlorene fehlt,
4. dem Verlorenen emotional einen neuen Platz geben, lernen, die Erinnerungen mitzunehmen, und weiter leben.
Der Verlust eines geliebten Menschen kann nicht erfolgreich verdrängt oder vollständig kompensiert werden – daher istdie vierte Aufgabe so wichtig. Es geht nicht darum, das Loch zu füllen, sondern damit zu leben. Das ist ein bisschen – man verzeihe dieses Beispiel – wie mit dem Schweizer Käse: Je reifer er ist, desto mehr und größere Löcher hat er. Ein Schweizer Käse ohne Löcher wäre kein guter Schweizer Käse. Mit den Menschen verhält es sich ähnlich: Je älter wir werden, desto mehr und größere Verlusterlebnisse sammeln sich in unserer Lebensgeschichte an – beileibe nicht nur Todesfälle. Jedem dieser Verluste seinen Platz in unserem Leben zu geben, das entstandene Loch als Teil unserer Identität zu akzeptieren und mit den Erinnerungen weiterzuleben, ist ein Teil dessen, was persönliches Wachstum und menschliche Reifung ausmacht.
d. Spirituelle Begleitung
Es ist unglaublich,
wie viel Kraft die Seele
dem Körper zu leihen vermag!
Wilhelm von Humboldt (1767–1835}
Wie schon erwähnt, hat die Definition der Palliativmedizin durch die Weltgesundheitsorganisation die Behandlung physischer, psychosozialer und spiritueller Probleme auf die gleiche Stufe gestellt. Dieser ganzheitliche Ansatz hat in der Medizin zwar uralte Wurzeln (man denke nur an die Figur des Schamanen), er war aber in der neueren Geschichte, besonders ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, durch die Verwissenschaftlichung und Technisierung der Medizin fast vollständig in Vergessenheit geraten.
Ein gutes Beispiel dafür bot in der Vergangenheit die Rolleder in deutschen Krankenhäusern regelmäßig vorhandenen Seelsorgedienste: Sie wurden von den Ärzten meist kaum beachtet, eine Kommunikation zwischen den Seelsorgern und dem medizinischen Team fand so gut wie nicht statt. Oft beschränkte sich die Rolle der Seelsorger auf die Durchführung bestimmter Rituale, vor allem bei Sterbenden oder Verstorbenen. Der Job war so unattraktiv, dass die Kirchen zum Teil ihre schlechtesten Seelsorger in die Krankenhäuser regelrecht «strafversetzten».
In den letzten Jahren zeichnet sich hier allerdings ein Wandel ab. Zum einen haben die Kirchen erkannt, dass die Auseinandersetzung mit den spirituellen Bedürfnissen der Menschen in der Krankheitssituation zu den wichtigsten Betätigungsfeldern in der Seelsorge gehört. Zunehmend werden die begabtesten Seelsorger in die Krankenhäuser geschickt. Ökumenische Kooperationsmodelle erfreuen sich in der Krankenhausseelsorge immer größerer Beliebtheit, obwohl ansonsten die Ökumene eher auf der Stelle tritt. Der Bereich der Krankenhausseelsorge ist mithin von einer eher peripheren Erscheinung zu einem der Schwerpunkte der pastoralen Tätigkeit der großen Religionsgemeinschaften geworden.
Eine parallel dazu verlaufende Entwicklung geht allerdings in eine andere Richtung, nämlich die Loslösung des Begriffs «Spiritualität» von einer ausschließlich religiösen, kirchengebundenen Vorstellung hin zu einer persönlichen Angelegenheit des Einzelnen (
believing without belonging
– glauben, ohne dazuzugehören). Diese Bewegung hat für einige Unruhe bei den etablierten Kirchen gesorgt, die den allmählichen Verlust ihrer Deutungshoheit in diesem nunmehr zentralen Bereich ihrer Tätigkeit mit Unbehagen beobachten.
Was heißt eigentlich Spiritualität (in der Medizin)?
Jeder Versuch, Spiritualität zu definieren, ist zum Scheitern verurteilt. Man kann sich dem Begriff bestenfalls annähern. Der Arbeitskreis Seelsorge der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin hat 2006 folgende Definition vorgeschlagen: «Unter Spiritualität kann die innere Einstellung, der innere Geist wie auch das persönliche Suchen nach Sinngebung
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