Über das Trinken
Überzeugung.
Von einem Moment auf den anderen schaute er wieder ganz lieblich und wollte mir seine großen, fleischigen Hände auf die Schultern legen.
»Bitte nicht anfassen«, sagte ich. Und, leicht hysterisch zu G. hin gesprochen: »Ich baller dem gleich eine.«
Das war, ehrlich gesagt, weniger eine Ankündigung als ein Aufschrei von Panik und Hilflosigkeit. Wie jeder weiß, ist es, wenn die Übermacht dermaßen rot und erdrückend ist, klug, die Sache kurz zu halten. Ein herzhafter Stoß auf das Ohr schien mir erwägenswert. Wer betrunken ist, hat erstens einen Tunnelblick und kann eine Hand, die von der Seite kommt, nicht sehen. Außerdem gibt ein Stoß aufs Ohr dem Gleichgewichtssinn endgültig den Rest, mit ein bißchen Glück erledigt sich dann die Sache von selbst. Hier hatte ich nur Angst, dieses Riesenohr könnte meine Faust irgendwie verschlucken. Ein Ohr wie ein Baseballhandschuh. Ich hatte, für einen kurzen Moment, tatsächlich Angst, der Engländer hält mit seinem krempigen, wulstigen Ohr meine Hand fest und dreht sie um und bricht mir den Arm oder so etwas. Ich hatte dann nach seiner Kinnspitze Ausschau gehalten, aber da war nichts Spitzes, und was seine Zähne betrifft, so hatte das britische Gesundheitssystem nichts übriggelassen, was diesen Namen noch verdient hätte. Gemessen an seiner Massivität bot dieser Mann erstaunlich wenig Angriffsflächen.
G., der sich mittlerweile in den Kissen geradezu rollte
vor Vergnügen, G. mit seiner ganzen Erfahrung aus Tausenden London-Aufenthalten und Cockney-Rejects-Konzerten, G. gab mir schließlich, ganz väterlich, den Rat: »Engländer, wenn sie betrunken sind, immer nur wegschieben; niemals schlagen!«
Man glaubt so etwas ja immer nicht, bis man es sich einmal traut.
In Todesangst schloß ich die Augen, schob die Hände nach vorn in die Körpermassen des roten Mannes hinein, und siehe: Er bewegte sich. Langsam ließ er sich nach hinten schieben wie ein Sack voller Gelee. Dies gab seinen Freunden an der Bar offenbar das Signal, sich um ihn zu kümmern. Geradezu rührend nahmen sie ihn zu sich und entschuldigten sich für sein Verhalten. Er sei noch jung, habe ein bißchen viel getrunken, meine es gewiß nicht böse. Dann brachten sie den großen, breiten, roten Mann ins Bett. Und er ließ es leise brabbelnd geschehen.
Am nächsten Morgen fuhr ich, aus einem Gefühl der Läuterung heraus, tatsächlich einmal zu der Sprachschule, in der ich dank meines Reisegutscheins immerhin ja angemeldet war. Ich saß da zwischen dem Sohn eines japanischen Auto-Managers und einer thailändischen Zahnärztin. Beide verstanden nur wenig Englisch, und das englische Leben, das verstanden sie gar nicht.
Der Lehrer versuchte der Thailänderin die Vokabel »to inhibit« zu erklären. Der Beispielsatz, der ihm dazu
einfiel, der besagte ausgerechnet, daß Engländer ihre »inhibitions«, also ihre Hemmungen, verlieren, wenn sie trinken. Und wenn sie ihre Hemmungen durch das Trinken erst einmal abgelegt hätten, so fuhr der Lehrer landeskundlich fort, dann neigten die Engländer dazu, die Steifheit, die ihnen immer nachgesagt wird, gewissermaßen überzukompensieren. Dann erklärten Engländer eben gerade auch völlig Unbeteiligten ihre Zuneigung. Wenn diese Zuneigung dann brüsk zurückgewiesen wird, dann würden sie natürlich sauer.
Neunzig Prozent aller Kneipenschlägereien mit Ausländern entstünden auf diese traurige und vermeidbare Weise, so der Lehrer.
Die Thailänderin und der Japaner staunten über diese Mechanismen genauso wie ich einen Abend zuvor. Immerhin konnte ich mich mit der Wendung »Nicht schlagen, nur schieben!« in den Unterricht einbringen. Englischstunden lohnen also immer.
Soviel zu England. Das genaue Gegenteil dazu heißt Spanien. In jeder Beziehung. Die beiden Pole der europäischen Trinkkultur liegen in London und Madrid. Wo im britischen Pub alles Teppich, Tradition und dunkles Holz ist, hat die spanische Bar im Idealfall nicht viel mehr als Neonlicht und Kacheln – den Rest machen die Menschen. Unterschiedliche Breitengrade bringen auch beim Trinken unterschiedliche Bedürfnisse hervor, also
andere Bars. Wo es draußen die meiste Zeit des Jahres kühl ist und regnet, ist beim Trinken dunstige Gemütlichkeit gefragt, warmes Funzellicht und dunkles Holz mit Ornamenten: gestalterische Signale von Gediegen-und Geborgenheit. Das hat dazu geführt, daß die standardisierbaren Grundelemente eines Pubs als erkennbare Kulisse in jedem
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