Über das Trinken
man der Sache ja ohnehin nicht, und bevor sie einen im Fernsehen mit ihren Karnevalsberichten malträtieren, fährt man lieber selber hin. Im Auge des Taifuns ist es am erträglichsten. Irgendwer gibt immer noch ein Kölsch aus, im Zweifel man selbst. Angehörige des Literatur-und Medienbetriebs, die mir namentlich bekannt sind, tragen Sträflingskleidung, Mönchskutten, Cowboy-Kostüme oder Krankenschwesterngarderobe. Einer geht auch als Dopingprobe. Es geht dann darum drinzubleiben, dabeizubleiben, mitzusegeln, nicht rausgeschleudert zu werden durch die Zentrifugalkräfte des Feierns, denn wer zu nüchtern ist oder zu betrunken, der findet sich schnell im Abseits wieder, in der tiefstmöglichen Einsamkeit. Wer nicht drin ist, ist so buchstäblich draußen wie selten einmal: Der fängt an zu frieren, verliert die Laune, versucht, noch ein-, zweimal aufzuspringen auf den Zug, natürlich vergeblich, geht schimpfend heim und weiß dann nicht, was er anfangen soll mit dem angebrochenen Nachmittag.
Wer aber drin ist, erlebt die Wunder der Strömungsphysik.
Man kann sich zwar grundsätzlich kaum noch bewegen, weil es so voll ist, wer aber einen Kranz Kölsch holen geht, für den ist immer genug Platz. Das Gute am Kölsch als Bier ist ja, daß kein Mensch mitzählen kann, wieviel er davon schon hatte, und sich deshalb auch keinen Kopf darüber machen muß. Und das Gute am Kölsch als Sprache ist, daß man es nicht versteht, aber trotzdem mitsingen kann, auch wenn man eigentlich gar nicht singen kann; das ist wiederum das Schöne an der Karnevalsmusik. Alles ist angenehm unsubtil jetzt. Wer so etwas schlimm findet, unzumutbar, unsophisticated, peinlich und unter seiner Würde: der gehört sicher zur Bevölkerungsmehrheit. Aber hier wäre er der Beschämte. Und das ist ja auch mal eine Form der Gerechtigkeit.
Es gibt an diesem Donnerstag, mit dem das Karnevalswochenende beginnt, ab etwa 16 Uhr in den Kneipen der Kölner Südstadt keinen mehr, der sich darüber lustig machen dürfte, wenn ein anderer das Gleichgewicht verliert. Und es gibt niemanden, der sich darüber empören dürfte, wenn sich die Strauchelnden mit dem Mund am Mund ihrer Nächsten festhalten. In Köln nennen sie das bützen. Und nur prüde Immigranten stellen dann die Frage, ob es auch einmal vorkommt, daß die Kölner Frauen und die Kölner Männer, die immer so strikt getrennt losziehen zum Feiern der sogenannten Weiberfastnacht, daß die also beim Herumknutschen mit Fremden aus Versehen auf ihre eigenen Ehepartner stoßen.
Denn sicher passiert auch das manchmal. Aber daran kann sich, wenn hinreichend Kölsch im Spiel ist, anderentags natürlich niemand mehr erinnern.
Ich selbst weiß ja auch nur noch, daß ich irgendwann raus bin aus dem »Backes« und durch Schutt und Scherben lief. Links und rechts von mir wiehernde Bacchantinnen und trunkene Silene. Nichts und niemand ging mehr. Alles torkelte, schwankte, fiel und segelte waagerecht durch die plötzlich gar nicht mehr so unansehnliche Stadt. Ich sah, wie die Polizei einem »Wildpinkler« 35 Euro Strafe in Rechnung stellte, und bewunderte insgesamt aber, mit welcher Geduld die Polizisten und Sanitäter und Straßenbahnfahrer als Brigaden der Nüchternheit dann doch für die Unversehrtheit der Vollgedröhnten sorgten.
»Ausnahmezustand« habe in den Karnevalshochburgen geherrscht, steht dann jedesmal in den Zeitungen. Und nur, wer eher kein Karnevalist ist, würde bei dem Wort zuerst an den Staatsrechtler Carl Schmitt denken und seine Theorien des Ausnahmezustandes als Vorhof der Diktatur. Es ist hier genau umgekehrt, ein verständnisvolles Zurückweichen des Staates, um ein paar Tage lang Platz zu schaffen für ein dionysisches Delirium. Wer jemals mitgefeiert hat, wird noch im schlimmsten Kater dankbar anerkennen, was da für Ventile geöffnet werden, wieviel Druck da abgelassen wird, aus den gesellschaftlichen, den geschlechtlichen und allen sonstigen
Beziehungen. Natürlich ist es mal wieder das, was Lenin den Deutschen als Revolution mit Bahnsteigkarte vorgeworfen hat. Eine Anarchie mit Bußgeldkatalog und Sicherheitsnetz. Man kann, wenn man unbedingt will, natürlich immer als erstes das Begrenzende daran sehen. Sinnvoller wäre es aber, endlich einmal wertzuschätzen, daß es überhaupt solche Freiräume gibt, ausgerechnet im alten, engen, obrigkeitsstaatlichen Deutschland.
Das, was sie in der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen als »nationales Desaster« bezeichnen, ist in Wahrheit
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