Über das Trinken
jedenfalls wesentlicher als die Qualität. In die Bierländer, wo kein Dioynsos feinsinnig herrscht, sondern sein Gegenspieler, der grobe Biergott Gambrinus. In seinem Reich wurden kugelförmige Pokale erfunden, die man nur auf der Öffnung abstellen konnte, die man also leeren mußte, wenn man sie loswerden wollte. Sein Vermächtnis ist der deutsche Grobianismus: die derben Saufscherze vor allem der deutschen Studenten, das Zwangsgesaufe im Convent, im Corps, in der Burschenschaft, das Gesaufe vor und nach der Mensur, das heißt, der Einsatz scharfer Fechtwaffen gegen Gegner, die man dann doppelt sieht. Mit alldem kann, wer will, sich bis heute noch auseinandersetzen, weil es all das ja noch gibt. Zumindest in Spuren, als Reste oder als Parodie. Es gibt, gerade in den kleineren Universitätsstädten Westdeutschlands, immer noch genügend Burschenschaften, in denen man auf Befehl Trinkstiefel leeren kann und solche Sachen. Wem das zu rechtsextrem ist, wird jederzeit in der Nachbarschaft eine Kneipe finden, wo er sich bei einem internationalistischen Mojito darüber erregen kann.
Das ist auch schon wieder so eine wunderbar dionysische List: Das Trinken vereint nicht nur, es trennt auch hervorragend!
Es sitzen ja auch die einen auf ihren Fincas auf Mallorca und lassen sich mit Rioja vollaufen, während die anderen am Ballermann ihre Strohhalme in den Sangria-Eimer
schieben. Natürlich hassen und verachten die auf den Fincas die am Ballermann, aber das hat vielleicht mehr mit dem Alter zu tun als mit den Trinksitten. Ich glaube, die bittere Wahrheit ist: Die Deutschen am Ballermann haben hinterher noch Sex, die Deutschen auf den Fincas haben Falten und Zirrhosen.
Entscheidend ist die Pluralität der Trinkstile. Und was das betrifft, ist Deutschland wirklich ausnahmsweise ein vorbildliches Land. Hier gibt es alles. Bierkenner, die wie Sommeliers daherreden können, und Weintrinker, die Komasaufen betreiben. Es gibt wenige Länder auf der Erde, in denen man Bauarbeiter ihr Feierabendbierchen schon in der Bahn oder im Bus trinken sehen kann. Und daß die Freiheit, mit einer Flasche in der Hand einfach in die Stadt hineinlaufen zu können, mittlerweile ein Faktor des Tourismus ist, das, ich hatte es erwähnt, wird von den unterdrückten jungen Menschen, die Easy Jet aus aller Welt unter mein Fenster gebracht hat, jeden Abend lautstark begrüßt und gefeiert. Kleine Wartburgfeste sind das, die mich immer wieder daran erinnern, daß das Trinken und das Rauchen, daß also die Machtergreifung über den eigenen Leib und die eigene Stimmung einen revolutionären Akt darstellen, eine sogenannte Errungenschaft des Volkes. Es erinnert mich daran, daß sich in diesem Trinken immer die Möglichkeit des Trinkens selber feiert. Und dann verzichte ich darauf, die jungen Menschen zur Ordnung zu rufen oder
mit der Polizei zu drohen; dann schließe ich das Fenster, denn dazu ist es ja da, und mache mir zur Not selber eine Flasche auf. Deutschland ist heute ein Land, in dem jeder nach seiner Façon betrunken werden kann. Es gibt jede Art von Trinkritualen und Trinkspielen – und es gibt den befreiten Totalexzeß, der, weil wir ja schließlich in Deutschland sind, aber auch wiederum etwas Regelhaftes und geradezu Pünktliches hat.
Jeder Herbst kennt die Weinfeste auf den Dörfern – die Kirmes, die nichts taugt, wenn es keine Schlägerei gibt am Ende. Und kein Mai kann beginnen, ohne daß angetrunken um den Maibaum gerungen würde. In Werder an der Havel bei Berlin tobt dann immer das Baumblütenfest, aus den Gärten heraus wird Obstwein eingeschenkt, der einen nach zwei, drei Gläschen beinahe von den Beinen holt. Dann fangen auch junge, muskulöse Männer schon in der Mittagshitze an zu taumeln, und manch einer stützt sich mit der Faust auf der Nase des Nächsten ab. Und wer meint, das liege daran, daß die Jugend immer mehr verrohe, der kann ja mal bei Tucholsky nachlesen, daß schon in den Zwanzigerjahren die Züge, die aus Werder zurückfuhren nach Berlin, in zwei Gruppen von Passagieren geteilt waren: zum einen die Betrunkenen, zum anderen die Verhauenen.
Weil Werder aber später dann in der DDR lag und die Westberliner nicht mehr ohne weiteres hinkamen zum Trinken und Hauen, wurde 1987 in Kreuzberg der Revolutionäre
Erste Mai erfunden. Die, die ihn erfunden haben, werden sicher andere Gründe aufführen, aber der Effekt ist praktisch der gleiche: Erst wird bei schönem Wetter viel getrunken, dann wird über die Stränge
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