Über das Trinken
nämlich eine erstaunliche Liberalität. Es sieht ganz so aus, als ob die bacchantischen Feste der Antike ausgerechnet dort am nachhaltigsten überdauert haben, wo die Römer damals an die Bierwelt der Germanen stießen.
In den Ländern, die einem wegen ihrer moderaten Weintrinkkultur immer als Vorbild hingestellt werden, zeigt sich heute, daß entsprechende Erfahrungen fehlen.
Im Frühjahr 2010 geriet die Pariser Polizei schon beim Blick in den Computer in Alarmbereitschaft, denn Zehntausende Jugendliche hatten begonnen, sich über Facebook zu einem Massenbesäufnis unter dem Eiffelturm zu verabreden. Sie nannten das Apéro Géant . Ähnliche Veranstaltungen hatte es schon in einigen Städten der Provinz gegeben, jetzt war die Kapitale dran. In Spanien gab es das schon etwas länger, dort nannten sie es Botellón , und in den kleineren Städten hatte die Sache bereits Wettbewerbscharakter.
Immer sind dann die Behörden ratlos und panisch und sinnlos restriktiv, und jedesmal ist das Ereignis selber dann eigentlich eher ein wenig langweilig. Vielleicht fehlt es an Musik zum Mitschunkeln, an Tradition und an Ausnahmezustandskostümierungen. Vielleicht könnten Trinkende wie Sicherheitsorgane dieser Länder ja ausnahmsweise von Deutschland noch etwas lernen.
Im Winter in Köln. Und im Herbst in München. Beim Oktoberfest, dem Karneval mit den großen Gläsern.
Das Schöne am Oktoberfest ist die Verläßlichkeit, daß die Maß Bier von Jahr zu Jahr noch teurer wird, und der Eindruck, daß das schon seit Jahrtausenden so geht und insofern schon seine Ordnung haben wird. Dabei gibt es das Fest erst seit zweihundert Jahren. Da ist also eine Tradition, die über weite Strecken eine gefühlte ist, und dazu passen Gefühle, die schon etwas Traditionelles haben. Das sonderbarste und überraschendste dieser Oktoberfestgefühle ist das Gefühl von Sicherheit. Es sind Millionen Menschen auf einem einzigen Fleck, alle sind volltrunken und aufgekratzt, es wird gestohlen, betrogen und »geschlägert«, wie das in den Polizeiberichten immer so landestypisch heißt: Die Zahl der Bierkrüge, die da im Lauf der zwei Oktoberfestwochen regelmäßig an fremden Köpfen zerschlagen werden, die Zahl der Diebstähle, Kollisionen und Sexualdelikte würde in so gut wie jedem anderen Land zum Verbot der Veranstaltung führen. Und trotzdem gibt es inmitten dieses Wahnsinns
das Gefühl, in großer, beglückender Sicherheit zu sein. Das ist natürlich in erster Linie ein Verdienst des Bieres, das nämlich nicht in erster Linie zum Rausch führen soll, sondern »zur Erhöhung und Temperierung der Gemütlichkeit« (so noch einmal Ernst Jünger), zu exakt der Art von Gemütlichkeit, der nicht umsonst alle paar Minuten ein Prosit gesungen wird. Wer das absurd findet, weil er Gemütlichkeit mit Sofaecke und Kuscheldecke verwechselt, der hat sie einfach nur noch nicht erlebt, die tiefe Behaglichkeit, die aufgekratzte Zufriedenheit, das Gefühl, an diesem Ort und in diesem Moment erst wirklich zu sich selbst zu kommen, für das ein Bierzelt gerade groß genug ist.
Es ist kein Wunder, daß hier Terroristen gern ihre Lunten legen. Es ist vermutlich das ideale, weil symbolisch verdichtetste Anschlagsziel für jeden, der diese Gesellschaft und ihre Lebensweise haßt. 1980 hatten Rechtsextreme hier eine Bombe gezündet. Nach dem 11. September 2001 herrschten erhöhte Sicherheitsvorkehrungen aus Angst vor islamistischen Anschlägen. Ähnlich war es 2009, nachdem Al Quaida Anschläge in Deutschland angekündigt hatte. Und das Tröstliche und Triumphale ist, daß es trotzdem immer weiterging. Die erhöhte Zahl an Sicherheitskräften ist das eine. Die andere Sicherheitsmaßnahme ist aber eben das Bier, das die Angst löscht, die Gemütlichkeit temperiert, einen schützenden Kokon aus Feiernden um die Feiernden
spinnt. Wenn die Angriffe auf unsere Freiheit mit dem Bierglas in der Hand abgewehrt werden können, wenn das Feiern selbst die Waffe gegen die Spielverderber ist: Dann, finde ich, möchte man gerade in so verbiesterten Zeiten wie diesen am liebsten ein Glas darauf erheben. Selbstbewußt weitertrinken – ich wüßte nicht, was der Westen Besseres tun könnte, gerade da, wo er sich von einem militanten Islam bedroht sieht.
XIV. Wer trinkt was, wann und warum?
Modernes Trinken · Und Postmodernes · Wein oder Bier · Kennertum und kluge Worte · Bitte kein Weizen! · Die Rolle der Gläser · Trinken im Sozialismus · »Bier Royal« · Das
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