Ueber den Himmel hinaus - Roman
schreiben, noch einmal hundert Tage abwarten? Und falls keine Antwort kam, würde sie sich dann einreden, dass der Brief verloren gegangen war, oder würde sie endlich akzeptieren, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte?
Sie beschloss, Stasja anzurufen.
Diesmal klappte es.
»Tante Stasja?«
»Natalja?«
»Nein, hier ist Lena.«
Schweigen. Dann: »Ich hatte nicht erwartet, von dir zu hören, Lena.«
Natürlich war ihr Papas Geschichte zu Ohren gekommen.
»Hör zu«, sagte Lena. »Ich nehme an, dass du für das, was du getan hast, deine Gründe hattest …«
»Ich habe gar nichts getan«, fuhr Stasja dazwischen. »Er stand nach zwanzig Jahren vor meiner Tür; er hatte keine Ahnung, dass sein Bruder gestorben war, und es war ihm auch egal. Er sprach mit Honigzungen, aber sein Herz war ein Eisklotz. Ich weiß nicht, was für Lügenmärchen er dir erzählt hat, aber glaub mir, er denkt nur an sich selbst.«
Lena atmete tief durch. Sie war eine erwachsene Frau, sie würde sich diesen Tonfall nicht bieten lassen. »Du hast ein Recht auf deine eigene Meinung, Tante Stasja«, sagte sie. »Ich will bloß seine Adresse oder Telefonnummer.«
»Ich habe weder noch.«
»Das ist nicht wahr. Du musst sie haben.«
»Habe ich aber nicht. Ich habe ihn nicht darum gebeten. Ich will ihn nie wieder sehen. Wozu sollte ich ihn da nach seiner Nummer fragen?«
»Mir ist klar, dass du das tust, um mich zu beschützen …«
»Ach, hör doch auf. Er tauchte wie aus dem Nichts hier auf, blieb fünf Minuten, bis ich ihm deine Adresse aufgeschrieben hatte - was ich mittlerweile übrigens zutiefst bereue -, und dann ging er wieder. Wir haben weder Höflichkeiten noch Telefonnummern ausgetauscht. Du kannst meinetwegen glauben, was du willst, aber ich möchte dich bitten, an all die Jahre zu denken, die ich für dich gesorgt habe, während er weiß Gott wo war.«
»Er ist gekommen, sobald er konnte.«
»Ich lege jetzt auf, Lena. Ich kann dir nicht helfen.«
»Falls er wiederkommt, oder anruft oder …«, sagte Lena verzweifelt.
»Lebwohl, Lena. Ich hoffe, du kommst bald zur Vernunft.«
»Verdammt!« Lena trat gegen die Telefonzellenwand. In ihre Wut mischte sich allmählich die entsetzliche Erkenntnis, dass Stasja die Wahrheit gesagt hatte. Stasja war warmherzig, äußerst praktisch veranlagt, aber stets fürsorglich. Immer hatte sie ein tröstendes Wort gehabt, wenn sie sich die Knie aufgeschürft hatte oder von tyrannischen Schulkameraden gehänselt worden war. Das machte es beinahe unmöglich, weiterhin an Papas Geschichte zu glauben, und ließ Nataljas Version immer wahrscheinlicher wirken.
An den zehntausend Pfund lag ihm mehr als an dir.
Lena trat aus der Telefonzelle und legte den Kopf in den Nacken, sodass sich ihre Tränen mit den Regentropfen vermischten.
KAPITEL 32
Natalja war beinahe eingenickt, als eine leise Stimme sagte: »Verzeihung, Miss Chernoff, Sie sind zu Hause.«
Verwirrt sah sie sich um. Es musste nach Mitternacht sein. Der Tag hatte sich endlos hingezogen, und so würde das noch die kommenden sechs Wochen weitergehen. Tatjana war zurzeit in eine Fehde zwischen zwei Familien verwickelt und spielte eine entscheidende Rolle für sämtliche Geschehnisse bei Lonely Shores , sodass Natalja sehr viel Zeit
am Set verbrachte. Sie fragte sich unwillkürlich, ob Rupert sie absichtlich so einspannte, um sich dafür rechtfertigen zu können, dass er ihre Rolle in Glynns Spionagethriller abgelehnt hatte. Sie hatte ihn noch immer nicht darauf angesprochen.
Sie bedankte sich beim Fahrer und ging gähnend zur Eingangstür. Fünf Stunden Schlaf, dann wieder zurück zum Set.
Als sie die Wohnung betrat, brannte zu ihrer Überraschung im Wohnzimmer noch Licht. Rupert saß vor dem flimmernden Fernseher in einem Sessel und schlief. Sie betrachtete ihn, seine hängenden Hamsterbacken, sein faltiges Gesicht. Er war älter als ihr Vater. Ihr wurde übel. Sie konnte ihn nicht heiraten. Aber es gab kein Entrinnen.
Sie ging zu ihm, schüttelte ihn sanft. »Rupert?«
Er richtete sich auf, schüttelte den Kopf, sah auf die Uhr.
»Du bist sehr spät dran.« Immer verdächtigte er sie, obwohl er selbst das Drehbuch geschrieben und den Wagen bestellt hatte und meist ganz genau wusste, was am Set geschah.
Sie setzte sich auf die Armlehne des Sessels. »Es gab viel zu tun.«
Er streckte den Arm aus, streichelte ihr über die Wange. »Du siehst müde aus, Schatz.«
»Du auch.«
»Ich habe mir einen Film angeschaut.« Er
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