Ueber den Himmel hinaus - Roman
sich, ob sie ihr zu viel abverlangte. Doch dann dachte sie an ihre düstere Wohnung in Sankt Petersburg und legte ihre Befürchtungen ad acta.
Ihre Werkstatt befand sich in einem schlecht erhaltenen Gebäude am südlichen Ende der Rue Henri Proust. Die Fenstersimse bröckelten, von den Türen blätterte die Farbe ab, doch innen war es geräumig und hell.
»Sofi! Du bist wieder da!«, rief Francette und sprang auf, um sie zu umarmen. Die beiden anderen Angestellten begrüßten sie ebenfalls, wenn auch nicht ganz so überschwänglich. Francette war eine liebenswerte junge Frau, lebhaft und äußerst intelligent, und sie kümmerte sich um Materialbestellungen, Versand und Rechnungsstellung.
Im Zentrum des Raumes standen vier riesige Arbeitstische mit halbfertigen Halsketten, Armbändern und -reifen, Ohrringen, Fußkettchen und Ringen. Es gab noch genügend Platz für zahlreiche weitere Arbeitsplätze, und noch einen zweiten, bislang ungenutzten Raum nebenan. Durch die beiden großen Fenster drang reichlich Licht herein. Trotzdem war jeder Arbeitsplatz mit einer Halogenlampe ausgestattet. In der Ecke neben einem fleckigen Waschbecken hatte Sofi einen Tisch und Stühle sowie eine Kaffeemaschine und einen Kühlschrank aufgestellt. Eine der Frauen hatte zudem ein Radio mitgebracht, aus dem leise klassische Musik ertönte. Zurzeit waren Sofis Angestellte damit beschäftigt, nach einem von ihr vorgearbeiteten Musterexemplar vierundsiebzig Armbänder aus dünnem Sterlingsilberdraht mit zartrosa Koralle und dunkelgrünem Turmalin anzufertigen. Sie nahm eines davon in die Hand und betrachtete es prüfend.
»Haben wir noch silberweiße Muscheln da, Francette?«
»Ja, etwa hundert Stück.«
»Das würde bestimmt ganz gut dazu passen, meinst du nicht?«
»Zeig mir, wie du es dir vorstellst.«
Sofi experimentierte eine Weile mit den Muscheln, probierte verschiedene Möglichkeiten aus, sie in das Schmuckstück zu integrieren. Sie war so in die Arbeit vertieft, dass sie kaum registrierte, wie ihre beiden neuen Angestellten nach Hause gingen. Erst als ihr Francette die Hand auf die Schulter legte, hob sie den Kopf.
»Entschuldige, Sofi, es ist nach sieben. Ich muss los.«
»Oh, tut mir sehr leid.« Sie dachte an Mama, die mit Nikita zu Hause saß. »Ich sollte mich auch auf den Weg machen.«
»Kommst du morgen wieder?«, wollte Francette wissen.
»Ja, ab sofort komme ich jeden Tag. Es gibt viel zu tun.« Sie lächelte Francette an. »Nimm dir doch morgen Vormittag frei, nachdem ich dich heute so lange aufgehalten habe.«
»Nicht nötig; das macht mir nichts aus.«
Sie brachen auf; an der Rue Traversière trennten sich ihre Wege. Dann eilte Sofi nach Hause. Ihr graute schon vor den missbilligenden Blicken ihrer Mutter.
Doch ihre Sorge war unbegründet. Mama hatte Nikita gefüttert, gebadet und ins Bett gesteckt, die Küche aufgeräumt und einen Teller Blini für Sofi ins Rohr gestellt. Sofi war sprachlos vor Dankbarkeit, bis sie erkannte, dass sie Julien jahrelang denselben Service geboten hatte und er nicht ein einziges Mal sprachlos gewesen war.
»Du musst aber nicht jeden Tag für mich kochen«, bemerkte Sofi, während sie ihre Pfannkuchen aß.
»Ich koche gern.«
»Ich werde auseinandergehen wie ein Krapfen.« Sofi deutete auf den Klecks saurer Sahne auf ihrem Teller.
»Du bist zu dünn.«
Sofi lachte und dachte an die Speckrolle um ihre Hüften, die sie nach Nikitas Geburt nicht wieder losgeworden war. »So etwas kann auch nur meine Mutter sagen.« Sie steckte sich den letzten Bissen in den Mund. »Entschuldige, dass ich so lange weg war.«
Mama musterte sie im harten Küchenlicht. »Bei mir musst du dich nicht entschuldigen, Sofi. Aber versuch, abends so oft wie möglich da zu sein, um Nikita ins Bett zu bringen, ja?«
Sofi nickte reumütig. »Er merkt doch gar nicht, ob ich da bin oder nicht.«
»Woher willst du das wissen? Nur weil er es nicht zeigen kann, heißt das nicht, dass du ihm nicht fehlst.«
»Mama, autistische Kinder …« Sie brachte es nicht fertig, den Gedanken auszusprechen, der fortwährend in ihrem Unterbewusstsein rumorte. Er liebt dich nicht; er wird dich niemals lieben.
Stasja rückte näher heran und ergriff behutsam ihre Hand. »Nun hör mir mal gut zu, Sofi Iwanowna Tschernowa. Alle Kinder lieben ihre Mütter. Das ist ein natürlicher Instinkt, genau wie das Atmen. Eines Tages wirst du erkennen, dass ich recht habe, dass er dir seine Liebe schon die ganze Zeit gezeigt hat, auf
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