Ueber den Himmel hinaus - Roman
überlegte sie, was sie mit diesem Geld und ihrer neu gewonnenen Freiheit anstellen sollte.
Nachdem Tatjana ohne Vorwarnung von den Bildschirmen verschwunden war und in den Klatschzeitungen die wildesten Gerüchte über ihre Trennung von Rupert kursiert waren, hatten ihr sechs verschiedene Männermagazine Geld dafür geboten, dass sie für sie die Hüllen fallen ließ. Sie hatte ablehnen müssen - auch die zahlreichen Anfragen
für Werbespots und mindestens drei kleinere Rollen in anspruchsvollen Fernsehdramen. Am schlimmsten war es gewesen, einer neuen Kosmetikfirma abzusagen, die sie als Werbeträgerin engagieren wollte.
Anfangs hatte sie angenommen, sie könnte einfach abwarten, bis der Vertrag auslief, und dann weitermachen, wo sie aufgehört hatte. Sie hatte sich eine schöne Zweizimmerwohnung zwischen High Street Kensington und Notting Hill gemietet, in makellosem Weiß und mit riesigen Erkerfenstern, und versucht, keinen Frust aufkommen zu lassen. Sie hatte sich eingeredet, sie würde den Medienrummel genießen. Doch dann hatte es den nächsten Skandal gegeben, Lonely Shores hatte - von Rupert äußerst clever eingefädelt - einen neuen Shooting Star bekommen, und bald war in den Illustrierten nichts mehr über sie zu lesen gewesen. Sie hatte versucht, den Kontakt zu ihren Kolleginnen vom Set aufrechtzuerhalten; ein schwieriges Unterfangen, da sie mit keiner von ihnen je richtig befreundet gewesen war. Marcus hatte panische Angst davor gehabt, mit ihr zu reden, also hatte sie sich auch bei ihm nicht mehr gemeldet. Irgendwann hatte das Telefon aufgehört zu klingeln.
Natalja hatte sich die Wartezeit mit Einkaufen und Reisen vertrieben, Sofi oder Lena besucht, sich mit austauschbaren, hübschen jungen Männern verabredet und darauf geachtet, sich ihre Schönheit zu erhalten. Sie hatte mehrere Anläufe gestartet, Bücher zu lesen, sich aber meist schon in der Mitte gelangweilt und kein einziges Mal bis zum Schluss durchgehalten. Dann hatte sie mit dem Gedanken gespielt, selbst zu schreiben - ihre Memoiren zum Beispiel -, sich aber nicht dazu aufraffen können, obwohl sie sich dafür sogar einen teuren Laptop gekauft hatte. Die meiste Zeit hatte sie damit zugebracht, im Internet nach ihrem Namen
zu suchen, nur um verärgert den Computer zuzuklappen, wenn sie über einen abfälligen Kommentar gestolpert war. Ganz kurz hatte sie sogar in Erwägung gezogen, Schauspielunterricht zu nehmen, war dann jedoch zu dem Schluss gekommen, dass das unter ihrer Würde war.
Dann war der Vertrag endlich ausgelaufen, und sie hatte sich noch am selben Tag auf die Suche nach Arbeit gemacht. Sie hatte jeden einzelnen Auftraggeber angerufen, der sie vor achtzehn Monaten hatte engagieren wollen, und sie hatte eine Abfuhr nach der anderen erhalten. Einer hatte sogar die Frechheit besessen, zu fragen, wer sie überhaupt sei. Einzig der Chefredakteur von Gentlemen’s Club hatte sich bereit erklärt, sie zu empfangen.
Deshalb saß sie nun in diesem hellblau gestrichenen Warteraum auf einem weichen weißen Sofa und betrachtete die gerahmten Plakate von lasziv dreinblickenden nackten Frauen, die die Wände zierten. Zweifel nagten an Natalja. Ob man solche Bilder geschmackvoll nennen wollte oder nicht, hatte weniger mit Posen und Beleuchtung zu tun, als vielmehr damit, wie dringend das dargestellte Mädchen Geld oder Publicity benötigte. Hätte sie sich gleich nach der Trennung für diese Zeitschrift ablichten lassen, dann wäre es ein Triumph gewesen. Sie hätte das große Interesse an ihrer Person nutzen und Rupert quasi die lange Nase zeigen können, indem sie ihren makellosen Körper öffentlich zur Schau stellte. Doch jetzt, nachdem ihr Stern verblasst war, würde dieser Schachzug unwillkürlich den Beigeschmack der Verzweiflung haben.
»Natalie?«
Ein gut angezogener Mann Anfang vierzig kam auf sie zu. Er hatte dunkles, kurz geschorenes Haar. Sie erhob sich und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Ted, richtig?«
»Freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Kommen Sie rein. Mein Fotograf ist auch hier.« Er führte sie in einen Besprechungsraum. Auf dem Tisch lagen stapelweise Hochglanzmagazine. »Das ist Carlo.«
Carlo hatte langes silbergraues Haar, das er sich zum Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.
Sie gaben einander die Hand und setzten sich.
»Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen«, begann Natalja. Sie hatte sich genau überlegt, wie sie das Gespräch eröffnen würde. »Ich bin jetzt vertraglich endlich nicht
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