Ueber den Himmel hinaus - Roman
genommen und auf dem Boden damit einen perfekten Kreis gelegt hatte, bemerkte Stasja schließlich: »Er ist sehr still.«
»Ja, das ist er.«
Sie versuchte es auf Englisch. »Komm zu Babuschka, Nikita.«
Er rührte sich nicht. Sofi hob ihn auf und setzte ihn ihrer Mutter auf den Schoß. »Braver Junge«, sagte Mama auf Russisch.
»Braver Junge«, echote Nikita.
»Lieber Himmel, er spricht bereits Russisch?«
»Nein, er wiederholt nur, was er hört.«
Stasja runzelte die Stirn. »Also gut, Sofi. Sag mir, was mit dem Kleinen nicht stimmt.«
»Er ist autistisch«, erwiderte Sofi mit zitternder Stimme. Wann immer sie es jemandem erzählte, überwältigte sie von Neuem die Verzweiflung.
Ihre Mutter nickte ohne den geringsten Anflug von Bekümmerung. »Dann wird er viel Arbeit machen, nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht. Jedes Kind ist anders. Aber unser Arzt hat uns unzählige Übungen aufgeschrieben, die es ihm leichter machen sollen, sich an seine Umwelt zu gewöhnen.« Sofi ergriff Mamas Hand. »Ich möchte, dass du mit mir nach Frankreich kommst.«
Sofort schüttelte Stasja den Kopf. »Unsinn. Wozu denn?«
»Mein Geschäft läuft gut, und Julien ist bis November in Australien. Jemand muss sich um Nikita kümmern.« Sofi biss sich auf die Lippe, um die Tränen zurückzuhalten. »Mama, ich brauche dich. Ich brauche dich mehr denn je. Ich …« Ihr versagte die Stimme.
»Ach herrje.« Nun hatte auch ihre Mutter feuchte Augen.
»Ich schaffe das alles nicht allein.«
Mama setzte Nikita behutsam ab und schloss Sofi in die Arme, und zum ersten Mal seit der Diagnose ließ sich Sofi richtig gehen und schluchzte hemmungslos. »Na, na«, sagte ihre Mutter immer wieder, bis sich Sofi wieder ein wenig gefangen hatte.
»Kommst du mit mir nach Frankreich, Mama?«, fragte sie.
»Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich gebraucht wurde«, sagte Stasja. »Natürlich komme ich mit.«
Sie hatten das Gästezimmer, das Sofi früher als Werkstatt gedient hatte, wieder zu einem Schlafzimmer umfunktioniert,
mit neuen Vorhängen und einer passenden Tagesdecke. Es war später Nachmittag, Nikita schlummerte an ihrer Schulter, und auch Sofi war erschöpft. Sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen. Stasja hatte die Reise besser verkraftet.
»Wir haben es in deiner Lieblingsfarbe Blau eingerichtet.«
»Du warst dir ja ziemlich sicher, dass ich kommen würde.« Stasja setzte sich aufs Bett und schlüpfte aus den Schuhen.
Sofi lächelte. »Ich habe gar nicht daran zu denken gewagt, dass du nein sagen könntest.«
Sie war froh, wieder zu Hause zu sein, umgeben von vertrauten Gerüchen und Geräuschen. Nikita hob den Kopf und rieb sich die Augen. Sofi küsste seine weiche Wange.
»Kann ich euch zwei gleich eine halbe Stunde allein lassen?«, fragte sie Stasja. »Ich war über eine Woche weg und würde gern kurz in die Werkstatt rübergehen.«
»Ich bin also bereits im Dienst?«
»Leider ja. Ich hoffe, es macht dir nichts aus. Ich muss einen ziemlich eiligen Auftrag erledigen.«
»Geh nur. Ich bin dankbar, dass ich hier bei meiner Tochter sein und gegen Kost und Logis auf meinen Enkel aufpassen darf.«
»Und gegen einen wöchentlichen Lohn«, erinnerte sie Sofi.
»Auf keinen Fall.«
Sofi erhob keine Einwände. Sie diskutierten die Angelegenheit seit Tagen. Sie würde einfach ein Konto für ihre Mutter eröffnen und das Geld dort einzahlen. »Er hat jetzt bestimmt Hunger. Ich hoffe, du findest dich in der Küche zurecht.«
»Ich werde ihm Blini machen.« Stasja hatte Nikita allerlei russische Speisen vorgesetzt, die er begeistert verzehrt hatte.
Es war ein seltsames Gefühl für Sofi, ohne ihren Sohn das Haus zu verlassen. Die vergangenen Wochen hatte sie Nikita stets mit in die Werkstatt genommen. Während sie arbeitete, saß er dort in einer Ecke und fädelte eine gute Stunde hochkonzentriert Perlen auf ein Stück Draht auf. Und sie hatte sich unentwegt Vorwürfe gemacht, weil sie eigentlich seine Sprachübungen mit ihm machen und ihm die Grundregeln der sozialen Interaktion beibringen sollte; all das, was er nie und nimmer allein lernen würde. Doch jetzt war Mama da, um diese Aufgabe zu übernehmen. Sie würde mit ihm im Zug zu den Arztterminen in Tours und Paris fahren, würde für ihn kochen und neben ihm sitzen, während er geräuschvoll sein Essen verschlang. Und er würde Sofi kein bisschen vermissen.
Sie wechselte ein paar Worte mit der Nachbarin. Mama würde Französisch lernen müssen. Sofi fragte
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