Ueber den Himmel hinaus - Roman
»Bye.«
Sofi saß neben Julien auf der Couch, im Kamin knisterte ein Feuer, ansonsten herrschte Stille. Sie hatten ein wundervolles Weihnachtsfest gefeiert. In Nikitas Zimmer im Pflegeheim St. Colette hatten sich Spielsachen getürmt, und er war sechs Stunden wach gewesen, um sie alle zu betrachten. Eine batteriebetriebene grün-violette Spielzeugwaschmaschine hatte es ihm besonders angetan, also hatte Sofi sie auf seinen Nachttisch gestellt und immer wieder den Knopf gedrückt. Seine Augen hatten begeistert aufgeleuchtet, wenn sich die Trommel drehte. Seine Genesung schritt nun täglich rascher voran. Er war länger und häufiger bei Bewusstsein, und dank der Physiotherapie, die er im Bett absolvierte, konnte er bereits mit einem Strohhalm aus einer Tasse trinken und mit einem Löffel Götterspeise essen. Es würde sich wohl nie feststellen lassen, ob er nach dem Unfall dauerhafte Hirnschäden davongetragen hatte - bei autistischen Patienten fielen die Testergebnisse nicht eindeutig genug aus. Aber nun, fast ein Jahr danach, war Sofi zuversichtlich, dass er endlich zu ihr und zu seiner Familie zurückkehren konnte.
Sofi starrte nachdenklich ins Feuer.
Julien massierte sanft ihre Schulter. »Ich finde, du solltest fahren. Ich glaube, es würde dir guttun.«
»Aber was ist, wenn mich Nikita braucht?«
»Es zeichnen sich keine dramatischen Veränderungen ab, und du musst ja nicht die ganze Woche bleiben. Du könntest nach zwei, drei Tagen zurückkommen.«
»Es ist so weit weg.«
»Aber stell dir mal vor, wie viel Gutes dabei herauskommen würde. Lena hat sich mit Natalja versöhnt; vielleicht kannst du deine Differenzen mit Lena auch beilegen.«
Sofi ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Je weiter Nikitas Genesung fortschritt, desto weniger Vorwürfe machte sie ihrer Cousine. Ja, Lena war betrunken gewesen, aber wenn sie an all die Faktoren dachte, die eine entscheidende Rolle gespielt hatten - das Plakat, das Nikitas Aufmerksamkeit erregt hatte; das Auto, das ausgerechnet in diesem Moment vorbeigefahren war -, musste sich Sofi eingestehen: Es war wirklich nur ein schreckliches Unglück gewesen. Und sie konnte sich keine schlimmere Strafe vorstellen als die Selbstvorwürfe, mit denen Lena seither gelebt hatte.
»Wir waren immer füreinander da«, sagte sie. »Es ist ein seltsames Gefühl, ihr dauerhaft böse zu sein. Es kommt mir vor, als würde meinem Leben etwas fehlen.«
»Dann solltest du über deinen Schatten springen und dich mit ihr aussöhnen.«
»Also gut«, sagte Sofi. »Ich fahre.«
KAPITEL 53
Natalja hatte sich lange nicht dazu durchringen können, Sam anzurufen, doch die Telefonate mit Lena hatten sie zusehends beunruhigt. Erst hatte diese Natalja bekniet, Sofi zum Kommen zu bewegen, und als sie hörte, dass Sofi eingewilligt hatte, war sie vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen. Und stets hatte sie verängstigt und betrunken geklungen. Schließlich hatte Natalja den Entschluss gefasst, sich mit Sam zu treffen, während sie in Briggsby war. Sie wollte herausfinden, ob er wusste, was mit ihrer Schwester los war, und mit ihm über die Möglichkeit einer Entziehungskur sprechen.
Sie hatte sich für den Vormittag des zweiten Weihnachtsfeiertags einen Wagen samt Fahrer bestellt. Für Fahrten im Zug oder Bus war sie zu berühmt, und sie wollte sich kein eigenes Auto zulegen, für den Fall, dass sie bald nach Sankt Petersburg und zu Maxim zurückkehren würde. Nicht, dass ihr Maxim auch nur die geringsten Hoffnungen gemacht hätte. Er hatte nicht angerufen, war auch nicht zur Premiere seines Films nach London gekommen. Zweifellos würde er von ihrer Fotostrecke im GC alles andere als begeistert sein, aber das war mit ein Grund dafür gewesen, dass sie darauf bestanden hatte - um ihm unter die Nase zu reiben, was ihm entging.
Nachdem der Fahrer ihr Gepäck im Kofferraum verstaut hatte, stieg sie ein und schmiegte den Kopf an die weiche Lederpolsterung. Dann atmete sie ein paarmal tief durch und fischte ihr Handy aus der Tasche, um Sam anzurufen.
Nach dem zweiten Klingeln nahm Anna den Hörer ab. Mist. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Natalja zögerte und legte dann auf. Was, wenn Anna ihrer Mutter brühwarm
erzählte, dass Tante Nat angerufen und ihren Vater zu sprechen verlangt hatte? Lena durfte nie erfahren, dass sie hinter ihrem Rücken mit Sam Kontakt aufgenommen hatte. Sie löste ihren Sicherheitsgurt, beugte sich zwischen den Sitzen nach vorn und hielt dem Fahrer das
Weitere Kostenlose Bücher