Ueber den Himmel hinaus - Roman
für die Stelle als Empfangsdame beworben, und beim zweiten Mal war sie zu spät zur Arbeit gekommen, sodass er einen Bus japanischer Touristen selbst einchecken musste. Damals hatte er sie vor den entgeisterten Gästen angebrüllt.
Mit gesenktem Kopf folgte sie ihm in sein Büro. Er bedeutete ihr, sich zu setzen, und nahm ihr gegenüber Platz. Dann hielt er eine weiße Karte hoch. Lena erkannte sie sogleich.
»Ich kann das erklären«, murmelte sie kleinlaut, doch er brachte sie mit einer Kopfbewegung zum Schweigen.
Er setzte seine Lesebrille auf und rezitierte theatralisch: »Viktor Iwanowitsch Tschernow, geboren 1943, dunkles Haar, braune Augen, mittelgroß. Bitte Lena Viktorowna Tschernowa kontaktieren, Oleg-Wladimirski-Pl. 11 B, Leningrad.« Er nahm bedächtig die Brille ab und fixierte sie mit eisigem Blick. »Wissen Sie, woher ich die habe?«
Sie schwieg.
»Eine amerikanische Touristin hat sich bei mir beschwert. Sie hätten ihr die Karte aufgedrängt! Sie haben wohl vergessen, dass die Amerikaner uns Russen gegenüber
noch immer misstrauisch sind; sie glauben, der KGB überwacht uns nach wie vor auf Schritt und Tritt. Sie hat Sie für eine Art Spion gehalten.« Er lachte und warf ihr die Karte hin. »Ich habe ihr gesagt, dass Sie für Spionage zu dumm sind - Leningrad heißt längst wieder Sankt Petersburg.«
Lena behielt für sich, dass sie viel Geld für diese Karten ausgegeben hatte und es sich nicht leisten konnte, neue drucken zu lassen. Seit zwei Jahren verteilte sie sie an sämtliche amerikanischen Gäste, und außerdem an alle englisch sprechenden japanischen Touristen. Schließlich war es von Wladiwostok nicht weit nach Japan; vielleicht hatte Papa ja dort sein Glück versucht. Sie murmelte bloß: »Bitte verzeihen Sie. Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Ich nehme an, dieser Mann ist Ihr Vater?«
»Ja.«
»Unzählige Leute sind unter dem Sowjetregime ›verschwunden‹. Vermutlich hat er es sich mit jemandem in der Partei verscherzt. Und Sie glauben, dass er noch lebt?«
»Ja, das glaube ich.« Sobald sie es ausgesprochen hatte, wurde ihr klar, dass sie die Hoffnung allmählich begraben musste.
Sie tat ihm leid. »Lena Viktorowna, es wäre mir lieb, wenn Sie diesen Unsinn künftig unterlassen würden. Sollte mir zu Ohren kommen, dass Sie die Gäste weiterhin belästigen, dann muss ich Sie entlassen«, sagte er etwas weniger scharf.
Sie ließ den Kopf hängen. »Jawohl, Alexej Andrejew.« Ihr lag nicht viel an dieser Stelle, aber sie wusste, sie sollte sie noch etwas behalten, für alle Fälle. Wenn sie erst ihre Flugtickets hatten, würde sie Alexej Andrejew sagen, was sie von ihm hielt.
»Und jetzt bringen Sie mir alle Karten. Ich werde sie besser vernichten.«
Sie holte die restlichen Karten aus ihrem Spind und übergab sie widerstrebend ihrem Vorgesetzten. Danach hielt eine Busladung schwedischer Gäste sie auf Trab, sodass sie erst auf dem Nachhauseweg wieder an Papa dachte. Es war fast zwanzig Jahre her, dass er verschwunden war. Sie erinnerte sich kaum noch an ihn. Ein einziges verknicktes Foto besaß sie von ihm, das sie in der Wäscheschublade aufbewahrte; Natalja hatte ihr verboten, es in der Wohnung aufzuhängen. Neben dem Foto lagen noch über hundert Kärtchen mit ihrer Adresse, und sie würde garantiert schon morgen wieder ein paar mitnehmen und die eine oder andere einem freundlich aussehenden amerikanischen Touristen zustecken. Es fiel ihr nicht leicht, ein Ziel aufzugeben, das sie fast ihr ganzes Leben lang verfolgt hatte.
An der Tür zu seiner Moskauer Wohnung schlüpfte Viktor Tschernow schwerfällig aus seinen Stiefeln. Erdklumpen lösten sich von den Sohlen und zerfielen auf den gesprungenen Bodenfliesen. Er hörte Uljana in der Küche hantieren. Es roch nach gebratenen Zwiebeln. Er seufzte, zog die kleine weiße Karte aus der Tasche seines Arbeitsanzuges und überflog sie noch einmal.
Dem Amerikaner, der sie ihm gegeben hatte, schien die Angelegenheit beinahe unangenehm gewesen zu sein. Man habe sie ihm förmlich aufgedrängt, erklärte er in gebrochenem Russisch, und er fühle sich verpflichtet, sie ihm weiterzugeben … Er hatte auf das Namensschild an Viktors Brust gedeutet. Viktor war bloß der Gärtner, aber die internationale Hotelkette, für die er nun arbeitete, bestand darauf, dass er eine Uniform samt Namensschild trug. Jeden
Tag nahm er die einstündige Anfahrt aus einem schmuddeligen Moskauer Randbezirk auf sich, um die Blumenbeete des Travel-Inn
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