Ueber den Himmel hinaus - Roman
zu jäten. Die Frau, von der der Amerikaner die Karte erhalten hatte - seine Tochter! - arbeitete ebenfalls in einem Hotel. Doch er verbat es sich, weiter über diesen Zufall nachzudenken, verbat sich sein Mitleid mit ihr. Dass sie nach all den Jahren noch immer nach ihm suchte! Er hatte angenommen, seine Kinder hätten ihn längst vergessen.
»Bring mir etwas zu trinken, Uljana«, brummte er und ließ sich auf das rissige Vinylsofa fallen.
»Hol dir selbst etwas«, erwiderte sie, leerte ihr Glas und hantierte weiter. Er sah ihr vom Sofa aus dabei zu. Die Hose spannte über ihren kräftigen Oberschenkeln, das messingblonde Haar war an den Ansätzen grau. War sie tatsächlich einmal die Verführerin gewesen, die ihn überredet hatte, seine Familie im Stich zu lassen und unterzutauchen?
Sie füllte ein Wasserglas mit Wodka und stellte es ihm hin. »Du wirkst müde. War wohl ein harter Tag, wie?«
Er sah immer müde aus. Er war müde. Erschöpft. Er hatte sein Leben satt. Bei dem Gedanken, dass er womöglich noch dreißig Jahre vor sich hatte, wurde ihm übel. Er hielt Uljana die Karte hin, und sie las die Aufschrift.
»Wo hast du die her?«
»Von einem Hotelgast. Lena ist meine Tochter, die jüngere.«
Sie verzog den Mund. »Eins von deinen Kindern?«
»Sie sind keine Kinder mehr. Sie müssen über zwanzig sein.«
»Wirklich? So lange ist das schon her?«
Uljana hielt sich immer noch für fünfundzwanzig; zumindest zog sie sich so an. Ihr gemeinsames Leben war für
sie ein einziges buntes Treiben hinter einem ständigen Schleier aus Alkohol.
»Und, was hast du jetzt vor?«, wollte sie wissen.
»Nichts.«
»Du willst sie nicht sehen?«
Er schüttelte den Kopf. »O nein, das ist vorbei.«
»Gut.«
Er grinste sie an. »Wenn eine von ihnen reich wäre, dann würde ich Kontakt zu ihnen aufnehmen.«
Sie lachte, und in diesem kurzen Moment erhaschte er einen Blick auf die Frau, die sie einmal gewesen war, ohne Schlupflider und verfärbte Zähne. Aber es stand ihm nicht zu, sie zu kritisieren. Er war Gärtner, er stank nach Tabak, die Haare fielen ihm aus, und er begann zu zittern, wenn er länger als acht Stunden keinen Alkohol bekam.
»Ja, mach das«, sagte sie. »Von allein kommen wir aus diesem Loch hier nämlich nicht heraus.«
Natalja verstand sich hervorragend auf eine majestätische Haltung. Diese Pose lag ihr im Blut. Kinn hoch, bedächtiger Augenaufschlag, gelegentlich ein huldvoller Blick auf die beiden kleinen Jungen, die über den Fußboden des Internationalen Flughafens von Chicago robbten und irgendetwas auf Englisch krakeelten.
Natalja hatte bereits ihr Gepäck geholt und sogar schon den Zoll passiert, doch von Roy Creedy keine Spur. Hatte sie die Anweisungen in seinem letzten Brief falsch verstanden? Oder hatte er noch einmal geschrieben, seine Meinung oder seine Pläne geändert? Doch sie ließ sich ihre Beunruhigung nicht anmerken. Es galt, einen guten ersten Eindruck auf Roy Creedy zu machen.
Passagiere mit Koffern und widerspenstigen Kindern im
Schlepptau eilten vorüber, streiften sie; die beiden kleinen Jungen wurden von ihrer Mutter scharf zur Ordnung gerufen; ein Sehbehinderter mit Blindenhund ging an ihr vorbei. Die Halle war erfüllt von Bewegung und Lärm. Sie versuchte, anhand der aufgeschnappten Gesprächsfetzen ihr englisches Hörverständnis zu testen. Sie hatte in den vergangenen Monaten fleißig gelernt. Umso mehr enttäuschte es sie, dass sie so gut wie nichts verstand. Die Leute redeten zu schnell oder zu undeutlich.
»Natalja?«
Sie mahnte sich, Ruhe zu bewahren, und wandte sich um. Da kam er angehastet, gab sich Mühe, seine Nervosität zu kaschieren. Er war größer, als sie ihn sich vorgestellt hatte, kernig und mit Jeans und einem karierten Hemd bekleidet. Unter seinem voluminösen Bierbauch glänzte eine große Gürtelschnalle, an der feisten rechten Hand steckte ein goldener Ring, und eine dicke goldene Kette klimperte gegen seine Armbanduhr. Er hatte sich einige lange Haarsträhnen kunstvoll quer über den kahlen Schädel drapiert, und die blendend weißen Zähne ließen sein Lächeln äußerst gewinnend wirken. Er war weder attraktiv noch unattraktiv, und als er ihre Hand zwischen seine Pranken nahm und kräftig schüttelte, musste sie ihn einfach sympathisch finden.
»Entschuldige, dass ich zu spät komme. Die I-94 war der reinste Eislaufplatz, und kaum war ich von der Mautstraße runter, stand ich auch schon im Stau.«
Sie lächelte, ließ sich ihre
Weitere Kostenlose Bücher