Ueber den Himmel hinaus - Roman
Lena gerichtet. »Schieß los«, sagte sie.
Sofi klopfte auf die Schuhschachtel. »Meine Freundin Anja erzählte, ihr Verlobter hat ihr teure Geschenke gemacht und ihr das Geld für das Ticket geschickt, noch ehe er sie persönlich kennengelernt hatte. Ich frage mich, ob wir da drin noch mehr so großzügige Männer finden.«
Lena runzelte die Stirn. »Du willst also Phase zwei einläuten und ihnen noch mehr Geld abluchsen?«
»Ich bin dabei.« Natalja reckte fast unmerklich das Kinn nach vorn, was ihr ein vornehmes, aristokratisches Aussehen verlieh. »Wir sind arm, sie sind reich.«
»Wir suchen uns fünf oder sechs Kandidaten aus«, schlug Sofi vor. »Lena schreibt die Briefe, sie kann am besten
Englisch. Wir senden weitere Fotos, machen Versprechungen. Mal sehen, ob wir einen dazu bringen können, uns Geld zu schicken. Und danach brechen wir einfach wie immer den Kontakt ab.«
Sofi klopfte das Herz bis zum Hals. Bisher hatten sie um geringe Einsätze gespielt und entsprechend kleine Gewinne gemacht. Jetzt erhöhte sich ihr Einsatz - nicht nur aus rechtlicher, sondern auch aus moralischer Sicht. Insgeheim hoffte sie, dass sich Lena weigern würde und die Sache damit erledigt wäre.
»Lena?«, sagte sie.
Lena sah von einer zur anderen. »Können wir es nicht erst einmal an einem Mann ausprobieren? Ich habe alle Briefe gelesen. Manche waren widerlich, aber ein paar Männer klangen richtig nett. Sie haben es nicht verdient, so über den Tisch gezogen zu werden.«
Natalja verdrehte die Augen, doch Sofi tätschelte Lena die Hand.
»Du hast ein großes Herz, Cousinchen.« Damit nahm sie den Deckel von der Schuhschachtel. »Gut. Wir lesen jeden Brief und suchen uns das reichste, größte Ekel heraus.« Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sie im Begriff war, eine entscheidende Veränderung durchzumachen. War dies der Abschied von ihrer jugendlichen Unschuld? Bei der Vorstellung schauderte sie. Andererseits enthielt diese Schuhschachtel ihre Fahrkarte in ein neues Leben.
Er hieß Roy Creedy und wohnte in DeKalb, Illinois. Lena erinnerte sich an ihn, weil er wie ein Rassist geklungen und Natalja das zweifelhafte Kompliment gemacht hatte, sie würde »überhaupt nicht wie eine typische Russin« aussehen. Auf dem beigelegten Foto stand er großspurig neben
einem roten Sportwagen. Er war zweifellos reich - er besaß ein Einkaufszentrum - und hatte offen zugegeben, dass er von seinen Pächtern zu hohe Mieten verlangte. Der perfekte Kandidat.
Widerstrebend schrieb Lena den ersten Brief. Teils waren ihre Hemmungen moralischer Natur - mehrere Männer um kleinere Summen zu erleichtern, das war etwas ganz anderes, als ein einzelnes Opfer ins Visier zu nehmen. Teils gründete ihr Widerstand aber auch auf dummen alten Eifersüchteleien. Sie war wegen ihrer hervorragenden Englischkenntnisse auserkoren worden, die Briefe zu verfassen. Doch es waren Nataljas Fotos, die sie den Briefen beilegten. Lena wusste, dass sie mehr als hübsch genug war, um als Lockvogel zu dienen, vor allem bei einem Mann wie Roy Creedy, und doch war von Anfang an klar gewesen, dass diese Rolle Natalja zufiel. Sie kam sich übergangen vor, so albern das auch war.
Nachdem sie den Brief verschickt hatten, wünschte sie sich insgeheim, sie würden keine Antwort bekommen, damit die Sache dann erledigt wäre. Zugleich hoffte sie, dass Roy Creedy auf den Betrug hereinfallen würde, damit sie zu ihrem Geld kamen und nach Hollywood aufbrechen konnten.
Und was dann? Lena wusste es nicht so recht. Natalja sprach ständig davon, ein Filmstar werden zu wollen, und sie nahm Schauspielunterricht. Lena hatte stets denselben Wunsch gehegt, wie jüngere Geschwister eben oft die Vorstellungen der älteren übernehmen, ohne sie groß zu hinterfragen. Jetzt musste sie sich eingestehen, dass sie weniger von einem Leben als Berühmtheit träumte (obwohl das durchaus seine Reize hatte), als davon, ihren Vater zu finden.
Binnen zwei Wochen erhielten sie eine Antwort von Roy Creedy und versammelten sich erneut um den Küchentisch. Creedy gab zu, dass er misstrauisch war. Er wollte nichts überstürzen und schlug vor, sie sollten sich erst eine Weile schreiben, ehe sie sich persönlich kennenlernten.
»Das kann dauern«, sagte Natalja. »Nehmen wir einen anderen.«
»Nein«, widersprach Sofi und zwirbelte nachdenklich eine Haarsträhne zwischen den Fingern. »Er ist genau der Richtige. Er will etwas Ernstes. Bei dem können wir mehr herausschlagen.« Sie lachte
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