Ueber den Himmel hinaus - Roman
versprach Sofi. »Aber nur, wenn du mir auch schreibst.«
»Ich habe nichts zu erzählen«, wandte Mama ein. »Das Leben hier kommt dir bestimmt sehr langweilig vor.«
»Nein, gar nicht. Ich höre gern von dir, von zu Hause. Versprich mir, dass du mir schreibst.«
»Natürlich werde ich das. Ich liebe dich, Sofi.«
»Ich liebe dich auch, Mama.« Im selben Augenblick fiel die letzte Münze durch den Apparat.
KAPITEL 10
Der Regen trommelte an die schmalen Fenster ihrer kleinen Wohnung, während Sofi erwartungsvoll ihre erste Materiallieferung auspackte. Tausende von Glasperlen, mehrere Spulen Silberdraht und schachtelweise Verschlüsse - endlich musste sie nicht mehr alles selbst anfertigen. Als das Telefon klingelte, hätte sie am liebsten gar nicht abgenommen, aber Natalja hatte von ihrer Agentur in den vergangenen vier Wochen mehrere Aufträge erhalten, und Sofi wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass ihr womöglich einer durch die Lappen ging. Doch es war Natalja selbst.
»Du musst sofort herkommen«, keuchte sie auf Russisch.
Sofi hatte sich so daran gewöhnt, Englisch zu sprechen, dass sie nicht gleich antworten konnte. »Wo bist du?« Sie
wusste nur, dass Natalja zu einem Fototermin gegangen war.
»In Clapham, es ist nicht weit. Nimm ein Taxi, es eilt.«
»Was ist passiert?«
»Ich verstehe nicht, was sie von mir wollen.«
»Natalja, du musst endlich Englisch ler…«
»Sie sind ganz aufgebracht. Du musst kommen. Ich habe Angst.«
Sofi sah aus dem Fenster. Es goss in Strömen. »Also gut, sag mir die genaue Adresse.«
Da weit und breit kein Taxi zu sehen war, stieg Sofi am Fulham Broadway in einen Bus, ließ sich zwischen zwei feuchten Regenmänteln nieder und klappte den Stadtplan auf. Der Bus keuchte von einer Haltestelle zur nächsten. Sofi klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Warum hatte Natalja Angst? War an dem Auftrag irgendetwas faul? Bislang hatte sie hauptsächlich für Kataloge posiert, in Unterwäsche und Bademode, was zwar recht einträglich war, aber auch irgendwie erniedrigend.
Sofi stieg aus und war noch keine zwei Minuten unterwegs, als eine Windbö ihren Regenschirm umstülpte. Bis sie an der betreffenden Adresse angelangt war, war sie vollkommen durchnässt. Trotzdem sah sie sich einen Augenblick verunsichert um. Sie stand vor einem ganz gewöhnlichen Wohnblock, von einem Fotoatelier keine Spur. Doch die Adresse stimmte. Sie trat ein.
Sobald sie die richtige Wohnung gefunden und geklopft hatte, riss Natalja auch schon die Tür auf. Sie war dick geschminkt, ihre Haare waren toupiert. Sie trug einen Morgenmantel.
»Danke, danke!«, wisperte sie und zerrte Sofi in die Wohnung.
Das Wohnzimmer war leergeräumt worden, an der Wand türmten sich Möbel, Bücher, ein Fernseher. In der Mitte des Raumes stand ein einzelner Ohrensessel, über den jemand eine große Decke mit Tigerpelzmuster drapiert hatte. Rund um den Sessel waren mehrere Scheinwerfer gruppiert. In der Küche unterhielten sich vier Männer.
»Meine Cousine ist jetzt hier«, verkündete Natalja auf Englisch, mit einem so starken russischen Akzent, dass Sofi Zweifel kamen, ob ihre Cousine die Sprache je gut genug beherrschen würde, um als Schauspielerin zu arbeiten.
Einer der vier, ein schlaksiger bärtiger Bursche in einem schwarzen T-Shirt, das über seinem Bierbauch spannte, kam auf sie zu und wedelte mit einem Blatt Papier. Das musste der Fotograf sein.
»Sie hat unterschrieben! Zeit ist Geld! Ich muss meine Assistenten zahlen!«
Sofi nahm den Zettel und murmelte, zu Natalja gewandt, auf Russisch: »Was ist denn los?«
»Sie haben gesagt, ich soll mich nackt ausziehen.«
»Was?«
»Es gibt keine Kleider, die ich vorführen soll. Sie wollen Nacktfotos von mir machen.«
Sofi überflog den Vertrag, den Natalja unterzeichnet hatte. Da stand es, schwarz auf weiß: Ich wurde darüber informiert, dass für den vorliegenden Auftrag unter Umständen Aktaufnahmen erforderlich sind.
»Hat dir Veronica das denn nicht gesagt?«
»Nein, nichts.«
»Natalja kann nicht gut genug Englisch. Sie wusste nicht, was sie da unterschreibt«, erklärte Sofi dem Fotografen.
»Da ist ein rechtlich bindender Vertrag!«, donnerte er
mit hochrotem Kopf. »Ich hatte bereits beträchtliche Ausgaben für dieses Shooting!«
»Natalja, geh und zieh dich an«, befahl Sofi.
»Wag es ja nicht«, zischte der Fotograf.
Natalja sah gehetzt zwischen ihnen hin und her.
»Zieh dich an«, wiederholte Sofi auf Russisch mit
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