Ueber den Himmel hinaus - Roman
schneidender Stimme. Natalja huschte ins Schlafzimmer.
Sofi reichte dem Fotografen den Vertrag. »Sie hatte keine Ahnung, was da steht. Sie wird sich nicht ausziehen.«
»Ist doch nicht mein Problem, wenn sie nicht Englisch kann.«
»Nataljas Problem ist es auch nicht. Beschweren Sie sich bei der Agentur.« Was hatte sich diese Veronica Hanson nur dabei gedacht? Andererseits hatte Natalja nichts dagegen gehabt, sich spärlich bekleidet ablichten zu lassen … Vielleicht waren die bisherigen Shootings ja gar nicht für Versandhäuser gewesen. »Wir gehen jedenfalls nach Hause.«
»Sie geht nirgendwo hin!«, brüllte der Fotograf.
Die anderen drei Männer scharten sich wie ein Rudel knurrender Hunde um ihn. Natalja trat aus dem Schlafzimmer; sie trug wieder ihre eigenen Kleider.
»Klären Sie das mit Veronica Hanson.« Mit heftig klopfendem Herzen packte Sofi ihre Cousine an der Hand und zog sie zur Tür. »Los, komm mit.«
Der Fotograf zog Natalja an den Haaren, sodass sie aufjaulte und strauchelte. »Hören Sie sofort auf!«, schrie Sofi, legte ihr einen Arm um die Taille und half ihr wieder auf die Beine. »Lassen Sie sie in Ruhe, sonst rufe ich die Polizei!«
Der Mann trat fluchend einen Schritt zurück und ließ sie gehen. Als sie unten auf der Straße waren, gaben Sofis
Knie nach, sie musste sich an die Hausmauer lehnen. Der Regen ließ Nataljas Frisur in sich zusammenfallen.
»Ich dachte schon, er bringt mich um«, keuchte Natalja auf Russisch und rieb sich den Kopf.
»Natalja, bitte , Englisch! Genau deshalb gerätst du immer in solche Situationen.«
»Veronica wird sauer sein. Sie vermittelt mir bestimmt keine Aufträge mehr.«
»Na, umso besser! Sie hat dich nicht darüber aufgeklärt, was hier läuft. Sie weiß, dass du kaum Englisch kannst. Sie hat einfach gehofft, dass du tust, was man dir sagt. Wenn du je als Fotomodell oder Schauspielerin ernst genommen werden willst, dann musst du auf deinen guten Ruf achten. Keine Unterwäsche- oder Bikini-Fotos mehr.«
»Aber Veronica …«
»Vergiss Veronica. Du suchst dir eine neue Agentin.«
Natalja kamen die Tränen. »Wie denn? Ich kann kaum Englisch reden, geschweige denn lesen.« Auf ihren Wangen bildeten sich schwarze Wimperntuschestreifen. »Ich schaffe das nicht. Was ist, wenn so etwas noch einmal passiert?«
»Keine Sorge.« Sofi dachte an das, was ihre Mutter ihr vor Jahren eingeschärft hatte: »Du bist keine Schönheit wie deine Cousinen, aber du hast Köpfchen. Wenn die beiden einmal in Schwierigkeiten geraten, werden sie auf deine Hilfe angewiesen sein.«
»Es wird nicht mehr passieren, weil ich dich managen werde.«
Sam, Sam, Sam. Lena konnte an nichts anderes mehr denken. Seine lächelnden Augen, seine langen Locken, seine warmen Hände … Sie verbrachte die Tage in einem Zustand liebestrunkener Verträumtheit. Vergessen waren ihre
Pläne, ein Filmstar zu werden, vergessen war Russland und die Suche nach ihrem Vater, vergessen auch ihr Drang, sich in ihrer neuen Heimat zu etablieren. Alles, was ihr einmal wichtig gewesen war, trat in den Hintergrund.
Die langen Sommertage waren vorüber, die Luft wurde bereits kühler und kündete vom nahenden Herbst. Am Mittwochabend machten sie wie immer zur selben Zeit Feierabend und brachen gemeinsam auf zum Proberaum der Velvet Ponies, einem ehemaligen indischen Restaurant. Die nackten Dielen dufteten noch nach Chili und Kardamom. Das Gebäude gehörte dem unberechenbaren Onkel des Schlagzeugers, weshalb die Band ständig befürchtete, demnächst vor die Tür gesetzt zu werden. Im Moment jedoch warteten ihre Instrumente dort noch sicher eingeschlossen auf die nächste Probe.
Als sie endlich ankamen - der letzte Kunde hatte sich bei der Auswahl der Lottozahlen ziemlich lange Zeit gelassen -, war dort alles dunkel. Sam knipste eine der Lampen an, über die jemand ein Tuch mit Paisleymuster gehängt hatte. Lena entdeckte einen Zettel auf dem Verstärker.
Probe entfällt - Chris schafft es leider nicht, und ich bin hundemüde. Fahre nach Hause, bis nachher, James.
»Ach, Mist«, brummte Sam und griff trotzdem zur Gitarre.
Lena ließ sich auf das alte Sofa fallen. Auf dem billigen Couchtisch stand ein schwerer Aschenbecher, der wie immer vor Zigarettenkippen überquoll. »Das ist doch sicher schon das dritte Mal, dass Chris nicht kommt, oder?«
»Das vierte Mal.« Sam setzte sich zu ihr. »Keine Ahnung, wie ernst ihm die Sache ist. Aber er ist ein guter Schlagzeuger.
« Er zupfte an den
Weitere Kostenlose Bücher