Ueber den Himmel hinaus - Roman
Abfallverwertungsunternehmen Berichte über verseuchte Böden zu verfassen. Sie war hier, um Schmuck zu entwerfen. Sie hatte ein Jahr Zeit, und sie hatte sich gelobt, diese Zeit bestmöglich zu nutzen und alles daran zu setzen, dass ihr Traum Wirklichkeit wurde.
So gesehen war ihr Besuch in der National Gallery am Trafalgar Square quasi harte Arbeit. Sofi gab ihren Rucksack ab und begab sich auf eine Reise durch die Jahrhunderte.
Sie war bereits in fast allen wichtigen Galerien der Stadt gewesen, doch immer wieder kehrte sie in diese riesige Sammlung großer Meisterwerke zurück. Vor einigen Gemälden blieb sie stets lange wie verzaubert stehen. Die Hinrichtung von Lady Jane Grey von Paul Delaroche oder Turners Hero und Leander … Farben und Strukturen sickerten in ihr Unterbewusstsein, um später in Form von Ideen für Schmuckstücke wiedergeboren zu werden: goldene Ketten und weiße Bänder; Silber, Perlmutt und Nachtblau. Zu Hause arbeitete sie dann stundenlang fieberhaft an ihren Entwürfen, während Lena und Natalja lautstark ein und aus gingen.
Sie klapperte auch zahlreiche Juweliere ab, prägte sich Muster und Formen ein, richtete schonungslos über jeden Goldschmied der Welt und war zugleich überzeugt, alle anderen müssten besser sein als sie, denn schließlich wurden deren Werke im Gegensatz zu ihren eigenen in Geschäften zum Verkauf angeboten.
Aber ehe sie ihre Schmuckstücke auf den Markt brachte, musste sie erst einmal genügend davon herstellen. Es würde sich zeigen, ob jemand daran interessiert war.
Sofi schlenderte durch die Galerie. Es war Donnerstagvormittag, noch früh und ziemlich ruhig. Um einer Gruppe australischer Touristen auszuweichen, betrat sie einen Raum mit Gemälden aus dem siebzehnten Jahrhundert. Sie blieb vor jedem stehen, sog das Gesehene förmlich in sich auf.
Vor einem Bild von Nicolaes Maes verharrte sie besonders lange. Es zeigte eine Frau, die mit einer hölzernen Schüssel auf dem Schoß eine Pastinake schälte und dabei von ihrer kleinen Tochter beobachtet wurde. Diesmal war sie ausnahmsweise nicht vom Zusammenspiel der Farben und Formen gefesselt, sondern von der dargestellten Szene. Die Frau erinnerte sie an Mama: das zurückgekämmte Haar, der konzentrierte, nach unten gerichtete Blick, das trübe Licht … Sofi fühlte sich in ihre Wohnung in Sankt Petersburg zurückversetzt.
Der Abschied war äußerst kühl gewesen. Mama hatte versucht, sich ihren Kummer nicht anmerken zu lassen, und Sofi hatte in ihrer Aufregung und Ungeduld getan, als würde es ihr gar nicht auffallen, sodass vieles ungesagt geblieben war. Sie hatte seit ihrer Ankunft in London jede Woche einen fröhlichen, wenn auch oberflächlichen Brief nach Hause geschickt, aber es war ungewohnt, Mama
nach vierundzwanzig Jahren nicht mehr ständig um sich zu haben.
Sofi betastete ihre Hosentasche. Das Geld für die U-Bahn. Sie konnte Mama anrufen und zu Fuß gehen. Nein, es war zu heiß, zu weit. Und doch war sie plötzlich bereit, die sieben Kilometer Fußmarsch auf sich zu nehmen, um Mamas Stimme zu hören.
Sie eilte zum Ausgang, fütterte das nächstbeste öffentliche Telefon mit Münzen, wählte die vertraute Nummer.
Mama meldete sich auf Russisch. Welch ein Genuss, ihre Muttersprache zu hören!
»Ich bin’s, Mama.«
»Sofi.« Überraschung, Freude, Zurückhaltung, alles in einem einzigen Wort.
»Sind meine Briefe angekommen?«
»Nein, kein einziger bis jetzt.«
Die russische Post. Sofi schämte sich. Sie hätte anrufen sollen, damit Mama wusste, dass alles gut gegangen war.
»Die kommen bestimmt noch. Es sind drei unterwegs«, sagte sie kleinlaut.
»Geht es dir gut? Und Lena und Natalja?«
»Ja, alles bestens.« Sofi war plötzlich den Tränen nahe. »Du fehlst mir.«
»Du mir auch, Kind. Aber lass dir dein Abenteuer nicht von deiner miesepetrigen alten Mutter verderben.«
»Du bist nicht miesepetrig.«
»Lassen wir das lieber. Erzähl mir von London.«
Also erzählte Sofi, und dann berichtete Mama, dass ihr Irina Petrowna Gesellschaft leistete und dass es in der Bäckerei viel zu tun gab. Sofi war unendlich froh, dass sie angerufen hatte; endlich hatten sich die Wogen geglättet. Münze für Münze warf sie in den Apparat - das Geld für
die U-Bahn, das Geld für Milch und Eier, und dann wurde ihr klar, dass sie aufhören musste, sonst konnte sie nicht einmal mehr Kaffee kaufen, und das würden ihr ihre Cousinen nicht verzeihen.
»Ich werde dir jede Woche schreiben, Mama«,
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