Ueber den Himmel hinaus - Roman
wurden ihr die Lider schwer. Nicht nur die nächtliche Arbeit ermüdete sie, sondern auch die ständige Auseinandersetzung mit der Fremdsprache. Lena beherrschte sie bereits fließend; ihr fiel es leicht, zu Hause englisch zu reden, wie sie es sich vorgenommen hatten. Sofi dagegen übersetzte im Geiste noch immer alles vom Russischen ins Englische, sie musste also doppelt so viel denken. Außerdem kümmerte sie sich um sämtliche organisatorischen Angelegenheiten - Mietvertrag, Rechnungen, Formulare, Finanzielles.
Sie war gerade am Zusammenräumen, als die Tür leise aufging und Lena lächelnd eintrat. Ihre Wangen waren von der kühlen Nachtluft gerötet.
»Du bist ja noch auf.«
»Ich wollte gerade ins Bett gehen.«
»Kann ich mit dir reden?«
Sofi nickte, und Lena setzte sich ihr gegenüber.
»Sofi, ich bin verliebt.«
»Das wissen wir.«
Lena riss die Augen auf. »Ihr wisst es?«
»Natalja vermutet es. Jemand aus dem Laden?«
»Ja, Sam. Er ist …« Sie verstummte, suchte nach Worten.
»Wann werden wir ihn kennenlernen?«
»Bald, bald. Es ist nur … Natalja … Sie ist so wunderschön.« Lena lachte befangen. »Ich mache mir Sorgen, weißt du?«
Sofi dankte dem Schicksal, dass sie nicht mit Schönheit gesegnet war. Schöne Menschen waren, wie es schien, einem ständigen Wettbewerb unterworfen, der ihnen nichts als Sorgen bereitete.
»Ich glaube, du musst dir deswegen keine Sorgen machen.« Sie tätschelte ihrer Cousine die Hand. »Nicht, wenn er dich liebt.«
»Das tut er. Zumindest sagt er das.« Lenas Wangen wurden noch röter, und jetzt wusste Sofi, dass es nichts mit der herbstlichen Kühle zu tun hatte. »Sofi, ich erkenne mich selbst kaum wieder, wenn ich mit ihm zusammen bin.«
»Lad ihn ein. Wir kochen ein russisches Essen. Wenn er erst deine Tschebureki probiert hat, ist er für immer dein.« Sofi stand auf und streckte sich. »Gehen wir schlafen?«
»Ich komme gleich nach.«
Während Lena noch eine Weile im Dunkeln saß und grübelte, machte Sofi es sich auf ihrer Luftmatratze bequem. Eines ist sicher, dachte sie: Sollte sich je ein Mann für mich interessieren, dann muss ich bestimmt keine Angst haben, dass Natalja ihn mir ausspannt.
KAPITEL 11
Die Kantine des STC-Gebäudes in Acton, das sich über mehr als einen halben Häuserblock erstreckte, bedurfte dringend einer Generalsanierung. Jedenfalls fand Natalja das, wenn sie dort ihre Runden drehte, um die Tische abzuräumen und mit einem schaumigen Reinigungsmittel zu säubern, von dem sich die Haut an ihren Fingerspitzen schälte. Man müsste bloß den blauweißen Linoleumboden und die staubigen Barockleuchter ersetzen, und eventuell die abgestoßenen dunklen Wände in einer anderen Farbe streichen, dann würde dieser Raum genauso schick und modern wirken wie der Rest des Gebäudes. Vielleicht fände sie diesen Job dann nicht ganz so deprimierend.
Sofi hatte recht gehabt: Ihr Englisch hatte sich rapide verbessert, seit sie diese Stelle vor vier Wochen angetreten hatte. Da sie nun tagtäglich mit der Sprache konfrontiert war und nicht mehr auf Hilfe von Lena oder Sofi hoffen konnte, lernte sie sehr rasch neue Wörter und Satzstrukturen und konnte inzwischen auch leidlich Englisch lesen. Trotzdem hasste sie ihren Job und die Tatsache, dass sie sich die Haare zum strengen Pferdeschwanz zusammenbinden und eine hässliche gestreifte Schürze tragen musste. Sie hasste es, die halb geleerten Teller der dick geschminkten, aufgeblasenen Nachrichtensprecherinnen abzutragen. Dass immer wieder Berühmtheiten auftauchten, machte die Sache nicht besser, im Gegenteil. Natalja wollte die Stars nicht bedienen, sie wollte einer sein . Ihr fiel auf, dass nur wenige bekannte Fernsehschauspielerinnen es optisch mit ihr aufnehmen konnten. Trotzdem waren diese Frauen berühmt, und sie war es nicht. All diese Leute behandelten sie wie Dreck, und sie musste es hinnehmen,
mit verdrießlicher Miene, während sie sich nach einer Veränderung sehnte.
Sie war auf einigen weiteren Castings gewesen, doch ihrer Agentin war mittlerweile klar, dass Natalja immer wieder aus denselben Gründen abgelehnt wurde. Ihr exotisches Äußeres machte vor der Kamera etwas her, ihr exotischer Akzent weniger. Sie hatte noch einen weiteren Auftrag bekommen - in einem Werbespot für Toilettenpapier, in dem sie eine Mutter hatte mimen müssen. Eine Mutter, und das bei ihrem flachen Bauch und ihrem Teint! Eine einigermaßen glamouröse Mutter zwar, aber trotzdem. Und das Schlimmste
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