Ueber den Himmel hinaus - Roman
war, dass sie noch immer auf ihre Gage wartete. Sofi telefonierte deswegen täglich mit der Agentur. Und Natalja saß in dieser schmuddeligen Kantine fest, mit aufgerissenen Händen und einer ewig feuchten Schürze. So schlecht war es ihr in Sankt Petersburg nie gegangen.
Wenn sie Lena ihr Leid klagte, sagte diese bloß: »Ich muss auch arbeiten«, aber ihr versüßte wenigstens der gut aussehende, charmante Sam das Leben, der die letzten sechs Wochen jeden Samstag zum Abendessen zu ihnen gekommen war.
»Natalja?«
Sie wandte sich zu ihrer Chefin Carmen, einem Rotschopf mit dunklen Sommersprossen auf der Nase, um.
»Ich mache eine Zigarettenpause. Kannst du hier die Stellung halten?«
Es war drei Uhr. Um diese Zeit hatten sie kaum Kundschaft. Natalja nickte und kehrte mit einem Tablett voller schmutziger Teetassen und Teller zum Tresen zurück. Carmen würde mindestens zwanzig Minuten weg sein, also mahlte Natalja frischen Kaffee, brühte sich einen Espresso
auf und setzte sich damit auf einen Barhocker hinter dem Getränkekühlschrank. Just da trat ein elegant gekleideter Mann mit dichtem weißblondem Haarschopf an die Bar.
Natalja stellte ihre Tasse ab und erhob sich. »Was darf es sein?«, fragte sie mürrisch.
Er starrte sie an. Er hatte schmale Augen und eine dünne, spitze Nase. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er noch gar nicht so alt war, Ende vierzig vielleicht. Die Haare waren gefärbt, und sein Gesicht und seine sorgfältig manikürten Hände waren tief gebräunt. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und darunter einen schwarzen Rollkragenpullover.
»Ist Carmen da?«, fragte er. »Ich hole mir immer einen Kaffee bei ihr, wenn ich im Haus bin.«
Natalja schüttelte den Kopf. »Sie raucht draußen Zigarette. Ich mache Ihnen Kaffee.«
»Carmen macht hervorragenden Kaffee.«
»Ich auch.«
»Nun, gut, ich vertraue Ihnen. Einen doppelten Macchiato zum Mitnehmen.«
Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen, während sie den Kaffee zubereitete, und fühlte sich äußerst unwohl mit ihrer schmutzigen Schürze und der unvorteilhaften Frisur. Sie war es gewohnt, angestarrt zu werden, aber dieser Mann tat es nicht, weil er sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Er taxierte sie.
Sie reichte ihm die Tasse. Statt zu bezahlen, sagte er: »Ich bin Rupert Palmer.«
»Natalja Tschernowa«, erwiderte sie argwöhnisch.
»Hm. Aus Polen?«
»Aus Russland«, sagte sie und zog in einem Anflug von gekränktem Nationalstolz die Schultern hoch.
»Sie haben keine Ahnung, wer ich bin, oder?«
Sie verneinte, ließ sich ihre Neugier nicht anmerken.
»Ich bin der Producer von Lonely Shores. «
Erneut hielt sie ihre Gefühle unter Verschluss, obwohl ihr Herz heftig zu pochen anfing. Lonely Shores war eine beliebte englische Seifenoper, die sie sich jeden Abend mit Lena anschaute. Sie schenkte Rupert Palmer ein träges Lächeln. »Ich mag Lonely Shores . Ist sehr gute Serie.«
»Danke. Leider scheinen die Werbeleute zurzeit nicht dieser Ansicht zu sein.«
Sie schwieg, weil sie ihn nicht verstanden hatte.
»Wie auch immer...«, fuhr er mit einem lockeren Lächeln fort. »Natalja Tschernowa, heute Nachmittag besetzen wir eine neue Rolle. Bridget Connells Nichte zieht in die Straße, und wir brauchen ein neues Gesicht, ein schönes Gesicht. Kommen Sie mit runter für eine Probeaufnahme?«
Diesmal konnte sie ihre Gefühle nicht verhehlen, vor Überraschung stand ihr der Mund offen.
»Natalja?«
Sie zog sich die Schürze aus und schob sie unter den Tresen. »Ich komme.«
»Wollen Sie Carmen nicht Bescheid sagen?«
Natalja winkte ab. »Ist nicht so wichtig.«
Rupert lachte, ein attraktives, kehliges Lachen, und ergriff ihre Hand. »Dann mal los.«
Sie folgte ihm durch einen gewundenen, mit Teppich ausgelegten Gang und das gläserne Atrium im Herzen des Gebäudes zur anderen Seite, wo sich die Aufnahmestudios befanden.
»Da sind wir«, sagte Rupert und führte sie schnurstracks an einer langen Schlange hübscher Mädchen vorbei, die Drehbuchauszüge studierten und ihr mit unverhohlenem
Neid nachstarrten. Sie betraten eine riesige Halle mit einer haushohen Decke, von deren Dachbalken ein großer Metallrahmen hing. Der Rahmen war mit Papier bespannt, davor standen zwei sehr helle Scheinwerfer und eine Kamera.
»Ginny, Dan! Hopp, hopp.« Rupert winkte einem Mann und einer Frau, die sich lachend Tee und Gebäck von einem langen Tisch nahmen. »Dieses arme Geschöpf habe ich soeben von seinem Posten oben in der Teestube
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