Ueber den Himmel hinaus - Roman
es sich surreal anfühlte. Ihre Schwester im Fernsehen.
»Deine Zähne wirken sehr weiß«, stellte Sofi fest. »Haben sie da künstlich nachgeholfen?«
Natalja rutschte etwas näher ran. »Sieht so aus, ja.« Und dann kaum auch schon der nächste Spot.
Sofi und Sam applaudierten, und Lena hob die Hände, presste sie sich jedoch unwillkürlich auf den Mund, als sie plötzlich von einer Welle der Übelkeit erfasst wurde. Sie hastete ins Bad, um sich zu übergeben.
»Lena? Alles okay?«, tönte Sofis Stimme durch die Tür, während sich Lena an die Toilettenschüssel lehnte und in sich hineinlauschte. Hatte sich ihr Magen beruhigt?
»Ja, ich glaube schon.«
Sofi trat ein und schloss die Tür hinter sich. »Kann ich etwas für dich tun?«
Lena schüttelte den Kopf. Sofi half ihr auf die Beine und klappte den Toilettendeckel zu, damit Lena sich setzen konnte. Dann ging sie vor ihr in die Knie und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Ist dir schon länger schlecht?«
»Den ganzen Tag.« Eigentlich sogar noch länger. Lena zuckte mit den Schultern. »Ich brüte wohl etwas aus.«
Sofi legte die Stirn in Falten.
»Lena, kann es sein, dass du schwanger bist?«
Lena schüttelte ganz automatisch den Kopf. »Unmöglich.«
»Bist du sicher?«
Jetzt kam sie doch ins Grübeln. Sie konnte sich nicht an ihre letzte Periode erinnern. Und auf einmal ergab alles einen
Sinn - ihre ständige Müdigkeit in letzter Zeit, ihre Übelkeitsanfälle. Ihr wurde flau. »Aber wir passen auf. Wir verwenden Kondome.«
»Immer?«
Lena nickte.
»Jedes Mal?«
»Bis auf das erste Mal, ja.«
»Und wie lange ist das her?«
Lena zählte nach. »Acht oder neun Wochen«, würgte sie hervor. »O Gott, Sofi. Was habe ich getan?«
Sam erschien in der Tür. »Na, was ist los mit unserer Patientin?«, scherzte er ahnungslos grinsend.
Ihr hinreißender, umwerfender Sam. Er würde weiterlächeln, das wusste sie. Er würde ihre Hand halten und ihr versichern, dass alles gut werden würde, auch wenn dem nicht so war. Trotzdem konnte sie die Vorstellung, es ihm sagen zu müssen, kaum ertragen, denn sein Leben würde sich von Grund auf ändern, und sie wollte nicht diejenige sein, die dafür verantwortlich war.
Sofi erhob sich. »Ich lasse euch zwei allein«, sagte sie.
»Warum? Was ist los?«, fragte Sam verwirrt.
Lena lächelte matt und atmete tief durch.
KAPITEL 12
Sofi hatte Glück. Es war ein herrlich klarer, kühler Herbsttag, als sie auf dem Camden Market zum ersten Mal ihren eigenen Stand eröffnete. Der Duft gebratener Zwiebeln hing in der Luft und ließ ihren Magen knurren. Sie war zu aufgeregt gewesen, um zu frühstücken, aber ihre Sorge erwies
sich als unbegründet. Die Leute blieben tatsächlich stehen, um mit ihr zu plaudern und ihre Arbeiten zu bewundern. Sie hatte beschlossen, ihr Geschäft Anastasia Designs zu nennen, nach ihrer Mutter, aber auch nach der jüngsten Tochter des letzten russischen Zaren, weil sie hoffte, ihrem Unternehmen damit eine geheimnisumwobene, exotische Note zu verleihen. Sie hatte sogar ein Logo entworfen: Es bestand aus dem russischen Buchstaben ч, mit dem ihr Nachname begann, und zierte die winzigen Schildchen, die sie an jedem einzelnen ihrer Stücke befestigt hatte. Sie verkauften sich im Nu; die Preise waren viel zu niedrig angesetzt, das war ihr mittlerweile klar, zumal alles von Hand gefertigt war. Sofi hatte in ihrer Ratlosigkeit ganz einfach beschlossen, in etwa den Gegenwert des verwendeten Materials zu verlangen und war davon ausgegangen, dass sie sich glücklich schätzen konnte, wenn sie auch nur ein Stück verkaufte. Aber sie grämte sich deswegen nicht sonderlich. Nächstes Mal wusste sie es besser.
Ringsum herrschte Stimmengewirr, Musik und Kindergeschrei; an einem Stand ganz in der Nähe leuchteten bunte Drachen in der Sonne, ihre Schwänze flatterten im Wind. Sofi unterhielt sich schon den ganzen Vormittag über immer wieder mit ihrer Standnachbarin, einer älteren Frau, die selbstgenähte Elfen- und Feenkostüme für Kinder verkaufte.
Zum ersten Mal, seit sie vor vier Monaten nach London gekommen waren, hatte Sofi das untrügliche Gefühl, sich mitten im Geschehen zu befinden, statt es wie ein Gemälde nur zu betrachten.
Sie schob ein paar Armbänder auf dem schwarzen Baumwollstoff zurecht, dann ließ sie den Blick wieder über das Gedränge gleiten. In einiger Entfernung erspähte
sie eine vage vertraute Gestalt. Woher kannte sie diesen Mann bloß? Kaum war er hinter
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