Ueber den Himmel hinaus - Roman
unter die Brust. Bald würde sie nicht mehr so im Bett liegen können. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, die düsteren Gedanken zu vertreiben, die ihr im Kopf herumgeisterten. Am Vortag war sie wieder im Krankenhaus gewesen. Es war alles bestens, zum Glück. Aber bei dieser Gelegenheit hatte die Hebamme ein Thema angesprochen, das Lena bislang geflissentlich verdrängt hatte: die Geburt.
»Wir können natürlich keine Prognosen abgeben«, hatte sie gesagt. »Fragen Sie Ihre Mutter. Wenn sie keine großen Schwierigkeiten hatte, wird es bei Ihnen vermutlich ähnlich sein.«
Lena hatte es einen Augenblick die Sprache verschlagen. »Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben«, hatte sie hervorgewürgt, worauf die Hebamme hüstelnd und sich räuspernd auf den Boden gestarrt und ihr versichert hatte, im England der Neunzigerjahre sei die medizinische Versorgung natürlich ungleich besser als vor Jahren in der Sowjetunion. Lena hatte sich von ihr beruhigen lassen, doch jetzt, in der Dunkelheit, kehrten ihre Gedanken zurück zum Tod ihrer Mutter. Woran war sie gestorben? Zu dumm, dass sie niemanden danach fragen konnte!
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Leise stieg sie aus dem Bett, ging in die Küche und stellte den Wasserkocher
auf. Da sie bereits unter Schlafstörungen litt, hatte Sofi ihr verboten, Kaffee zu trinken, also machte sie sich eine Tasse Kamillentee und schaltete den Fernseher ein. Ihre Augen schmerzten, sie konnte sich nicht auf die Bilder konzentrieren. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu ihrer Mutter zurück, zu Babys und Blut …
Vielleicht konnte ihr Tante Stasja weiterhelfen. Lena trank ihren faden Tee aus und ging zum Telefon. In Sofis Adressbuch, das danebenlag, stand auch, wie viele Stunden Zeitverschiebung zu berücksichtigen waren. Tante Stasja musste bereits beim Frühstück sitzen und würde sich bald auf den Weg zur Arbeit machen. Lena zögerte. Wusste Sofis Mutter von ihrer Schwangerschaft? Selbst jetzt, als Erwachsene, fürchtete Lena die Missbilligung ihrer Tante.
Lena atmete tief durch und nahm den Hörer ab. Sie führten nur zu wichtigen Anlässen Ferngespräche, ansonsten schrieb Sofi ihrer Mutter einmal wöchentlich. Aber das hier war wichtig. Wenn sie jetzt nicht mit ihrer Tante sprach, würde sie nie wieder schlafen können.
»Guten Morgen, Stasja Michailowna Tschernowa am Apparat.«
Tante Stasja war immer sehr höflich, wenn sie ans Telefon ging. Sie tat Lena leid. Sie war so altmodisch, legte so viel Wert auf das, was andere über sie dachten.
»Hallo, Tante Stasja, hier ist Lena.«
Überraschtes Schweigen. Dann: »Und, soll ich dich beglückwünschen oder bemitleiden?«
Sie wusste es also. »Beglückwünschen«, sagte Lena kleinlaut. »Ich bekomme Zwillinge, und Sam und ich werden heiraten.«
»Zu meiner Zeit war die Reihenfolge noch umgekehrt; erst die Hochzeit, dann die Kinder … Aber ich wünsche
dir alles Gute, Kind.« Jetzt klang ihre Stimme weniger streng.
»Entschuldige, dass ich so früh schon störe«, sagte Lena, »aber ich kann nicht schlafen, und du bist die Einzige, die mir helfen kann.«
»Wie denn?«
»Weißt du etwas über Mamas Tod?«
Stasja seufzte mitfühlend. »Nein, leider nicht. Wir wissen nur das, was dein Vater erzählt hat. Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf, Lena, es wird schon alles gut gehen.«
»Wenn ich ihn nur finden könnte.«
»Du brauchst ihn nicht«, sagte ihre Tante kühl.
»Aber er könnte mir sagen, wie Mama gestorben ist, und dann wüsste ich, ob die Ursache erblich ist.«
»Er war bei deiner Geburt nicht dabei, Lena«, winkte sie ab. »Er hat sich mit seinen Freunden betrunken, und als er nach Hause kam, stellte er fest, dass Natalja bei den Nachbarn war und im Krankenhaus ein mutterloser Säugling auf ihn wartete. Mehr wusste er nicht.«
Das musste Lena erst einmal verdauen.
»Sie hat Natalja ohne Schwierigkeiten zur Welt gebracht, Lena. Denk nicht mehr daran.«
Nachdem sie aufgelegt hatten, schaltete Lena den Fernseher und die Lichter aus und ging wieder ins Bett. Natalja drehte sich zu ihr um, öffnete ein Auge und murmelte heiser: »Alles in Ordnung?«
»Ja.« Lena drehte sich wieder auf den Bauch. »Ich kann bloß nicht schlafen.«
Natalja streichelte ihr über den Kopf. »Dann lieg einfach nur da und entspann dich.«
Die beruhigende Geste, die sanfte Dunkelheit machten sie schließlich doch müde. Sie war gerade dabei, einzunicken,
als sie eine leichte Bewegung unter der Bauchdecke spürte.
Es
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