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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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Plötzlichkeit, die sie beide das Gleichgewicht kostete, stieß Olaf den Jüngeren von sich, der sich schneller wieder fing, als er selbst. Olaf taumelte noch einen Moment, als Christian schon wieder gerade stand und ihn mit seinen verwundeten Augen ansah.
    „Was tust du?“, flüsterte Olaf und bedeckte seine Lippen mit der rechten Hand. „Das… das geht nicht.“
    Christian zuckte mit den Schultern. „Ich wollte nur, dass du dich besser fühlst.“
    „Das ich mich besser fühle?“, brachte Olaf mühsam hervor. „Wie zum Teufel soll ich mich damit besser fühlen. Das ist… das ist…“
    Christian schloss seine Augen. „Das ist nichts“, sagte er leise. „Ich dachte nur… ich… dachte nichts.“
    Olaf atmete heftig, bevor er seine Hände wieder die Seiten hinab fallen ließ. Unwillkürlich wischte er seine Finger am Anzug ab, als könnte er etwas Schmutziges entfernen.
    Christian holte tief Luft und öffnete seine Augen wieder, hielt sie fest auf den Größeren gerichtet. „Ich habe dich vermisst“, sagte er dann. „Und ich wollte, dass du wieder herunter kommst. Dass du das durchziehst.“
    „Was denn?“ Olaf fühlte sich ratlos.
    Christian vollführte eine ungenaue Handbewegung. „All das hier… du musst das hinter dich bringen, damit… damit wenigstens aus dir etwas wird.“
    Olaf blieben die Worte im Hals stecken. Erst nach einer Weile krächzte er: „Ich verstehe dich nicht.“
    Wieder zuckte Christian mit den Schultern. „So wie ich das sehe… so wie man mir das nahebringt…“
Er verstummte, senkte den Blick.
    „Aus dir sollte das werden, was sie von dir erwarten…“
    Olaf fühlte den Druck in seinem Inneren ansteigen, den Kloß in seiner Kehle, der ihn verstummten ließ.
    Er öffnete den Mund, doch kein Ton entkam seinen Lippen, nicht einmal das heisere Stöhnen, das er in sich aufsteigen spürte.
    Olaf schüttelte den Kopf, hilflos, ratlos, unschlüssig ob einer Erwiderung.
    Christian kam einen Schritt auf ihn zu, sah ihn gerade an. Er legte seine Hand auf Olafs Schulter, worauf dieser erschauerte. Christians Stimme klang fest, verwandelt und stark auf eine Olaf bislang unbekannte Weise.
    „Du ziehst das durch, Olaf. Es ist dein Schicksal. Du hast das immer gesagt. Und du wirst es gut machen, perfekt, wie alles Andere.“
    Ein zuversichtliches, wenngleich schmales Lächeln breitete sich über Christians Gesicht aus und Olaf fragte sich zum ersten Mal wann und woher sein kleiner Bruder diese Überzeugung nahm, seit wann er der Erwachsene in ihrer Beziehung sein konnte.
    Er schluckte und senkte den Blick. Und doch nickte Olaf schwach, stimmte Christian zu, wusste, dass er ihm zustimmen musste.
    Olaf presste die Lippen zusammen und suchte Christians Blick. Seine Augen glitten über den weichen Mund, die blasse Haut, die ihre schwachen Schatten des Bartwuchses trotz gründlicher Rasur nicht verbergen konnte, bevor sie die dunklen Gegenpole seiner eigenen Augen fanden.
    Von ähnlicher Farbe, von ähnlicher Form, und doch so verschieden, so anders.
    Zwei Menschen, Brüder, getrennt durch Alter, Leben und Charakter empfanden doch beide das Band des Blutes als das Mindeste der Verknüpfungen, die sie aneinander ketteten.
    Olafs Gedanken huschten für einen Moment zu der ersten Erinnerung, die ihn mit seinem Bruder verband, zu dem ersten Blick, den sie geteilt hatten.
    Als Christian ein Baby gewesen war, als Olaf ihn in seinen Armen gehalten hatte, ein winziges, fremdartiges, geheimnisvolles Wesen, von dem niemand ahnen konnte, zu welch einem Menschen es sich dereinst entwickelte.
    Und nun stand Christian ihm gegenüber. Olaf spürte die Wärme seiner Hand auf der eigenen Schulter und es fühlte sich an, als wäre diese der Anker, der ihn festhalten, der ihn auf der Erde halten sollte.
    *
    Der Rest des Abends verschwamm in den mechanisch eingeübten Abläufen formeller Pflichten.
    Und doch war Olaf nicht alleine, spürte er den Bruder an seiner Seite, die Hand, die ihn führte, den Strohhalm, den dieser ihm reichte.
    Er würde nie erfahren, warum ihn ausgerechnet diese Nacht an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht hatte, warum er so nah daran gewesen war, zusammenzuklappen und alles aufzugeben.
    Doch eine Erinnerung blieb ihm bestehen, durch die folgenden Jahre, fest und beständig. Die Erinnerung an den Halt, der ihm so widersinnig und von derart unerwarteter Seite zugestanden worden war.
    Olaf brachte die Zeit hinter sich, lächelte pflichtschuldig, schüttelte Hände, tauschte

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