Ueber den Horizont hinaus - Band 1
gewohnt war, jede Einzelheit, jeden Ansatz seines Verhaltens zu deuten.
Doch Olaf bemerkte es, das kaum merkliche Augenflattern, das nervöse Zucken, das Zwinkern, das der unvermeidlichen leisen Drehung in Olafs Richtung vorausging.
Er wollte sich nicht wundern, dass Christian seine Anwesenheit spürte, wollte nicht erstaunt darüber sein, wie weit sich das unsichtbare Band zwischen ihnen erstreckte. Und doch sog er scharf die Luft ein, als Chris seinen Kopf nur einen Zentimeter wand, als seine Augen auf den Bruder trafen und sich vergrößerten, halb in Schrecken, halb in Erwartung.
„Olaf!“ Tonlos stieß Christian den Namen aus, und dieser Laut brach den Bann.
Noch ehe Olaf wusste, was er tat, riss er seinen Bruder aus dem Griff der beiden Männer, zog ihn zurück, ungeachtet der lautstark aufheulenden Proteste.
„Hey Mann, was fällt dir ein?“
Er zerrte Christian vom Tisch fort, stolperte beinahe, ob der Macht des Ruckes, dem der Jüngere keinerlei Widerstand entgegensetzte.
Christian ließ sich nur allzu willig mitreißen, folgte ihm, ließ sich beiseite schieben und ziehen und Olaf verspürte einen tiefen Schmerz, den er mit der Vorstellung verband, dass der Jüngere gewohnt sein konnte, sich derart willenlos zu zeigen.
Paolo war verschwunden und so stieß Olaf Christian ein wenig zu grob gegen die Theke, und doch nicht grob genug, als dass es seinem Ärger auf ihn entspräche.
„Was tust du?“, zischte Olaf, während der Ärger immer noch rot in ihm aufstieg.
Christians Augenlider flatterten, und doch hob er sein Kinn in dem Versuch, sich selbst zu behaupten.
„Was glaubst du denn?“, antwortete der Jüngere und schob trotzig seine Unterlippe vor.
„Du…“ Olaf fehlten die Worte. Seine Hand presste immer noch gegen Christians Brust, hielt ihn fest. „Du kannst doch nicht…“
Er schüttelte den Kopf. „Das geht doch nicht…“, sagte er leise und mehr zu sich selbst, bevor er den anderen los ließ und seine Brieftasche aus der Jacke fischte.
Achtlos warf er einen Schein auf die Theke, packte dann Christian am T-Shirt und zog ihn mit sich. Aus der Bar hinaus, über den Parkplatz, bis zu seinem Wagen.
„Wie bist du hierhergekommen?“, fragte Olaf, als die kalte Nachtluft seine Emotionen abzukühlen begann.
„Was interessiert es dich?“ Christian verschränkte die Arme, blieb stocksteif vor dem Auto stehen.
„Was es mich interessiert?“ Olaf ließ ihn los und fuhr sich mit beiden Händen durch sein Haar.
„Es… es geht mich etwas an. Ich kann doch nicht dabei zusehen, wie du… wie du…“
„Woher wusstest du, dass ich hier bin?“, fragte Christian schließlich, während er sich nach Kräften bemühte, seine Fassung wiederzufinden.
„Ich wusste es nicht“, rutschte es Olaf heraus, noch bevor er über seine Worte und deren Folgen nachdenken konnte.
Christian sah ihn an und sein Mund formte eine stummes ‚Ach‘.
Olaf beobachtete, wie er blinzelte, dann den Kopf senkte, bis sein Haar ihm wie ein Vorhang in die Stirn fiel.
Kaum glaubte er sich dahinter versteckt, so verzogen sich die Lippen zu einem schmalen Lächeln und Olaf spürte, wie neben dem Ärger die Scham in ihm aufstieg.
„Ich bring dich nach Hause“, schnappte er etwas zu laut, als wollte er sein eigenes, klopfendes Herz übertönen.
„Wieso?“, fragte Christian und hielt den Kopf gesenkt. „Ich bin erwachsen. Ich kann tun was ich will und mit wem ich will, solange ich diskret bin.“
Er sah auf. „Das hast du mir gesagt.“
Olafs Atem beschleunigte sich.
„Aber das hier… das ist…“
Christian suchte den Blick des Älteren, tauchte in diesen ein.
„Das ist es, was ich heute brauche…“, sagte er leise und schloss die Augen. „Gerade heute“, fuhr er fort.
„Und es ist nicht das erste Mal.“
Olaf erschauerte. Er stand bereits zu nah an seinem Bruder, nah genug, dass es auffallen könnte, dass es auffallen würde, befänden sie sich nicht an einem Ort zu einer Zeit, während der niemand auf den anderen achtete.
Olaf fühlte den Sog, der von dem Jüngeren ausging, das Pulsieren in seinen Adern, dass nur ein Streben kannte.
Und das Zittern in Christians Unterlippe, die beinahe krampfhaft geschlossenen Augen, das Beben des schlaksigen Körpers erzählten davon, dass Christian exakt wusste, wie er sich fühlte. Dass der Jüngere es wusste, weil er es auch spürte.
Mit einem Mal war es egal, wo sie waren und wer sie waren. Es war egal, dass ihre Wünsche von außen betrachtet,
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