Ueber den Horizont hinaus - Band 1
gerichtet und sie gab sich nicht die Mühe eine Antwort abzuwarten.
„Ich suche Christian“, sagte Olaf. „Vorhin war mir, als wäre er bei dir.“
„Oh, das war er“, erwiderte Helena und zupfte gedankenverloren an ein paar Blättern. Sie seufzte auf.
„Ich musste ihm Zeit geben, sich zu überdenken“, fuhr sie dann fort. „Der Junge war immer schwierig.“
Olaf runzelte die Stirn. „Wo ist er?“
Doch Helena zuckte lediglich mit den Schultern. „In seinem Zimmer vielleicht, oder in einem anderen der Verstecke, die er sich hier gesucht hat. Du ahnst gar nicht, wie schwierig es manchmal war, ihn aufzuspüren.“
Olaf nickte kurz. „Vater sagte, ich sollte ihn zum Dinner holen.“
„Oh, das hat noch Zeit“, fiel Helena rasch ein. „Die Konstantins treffen immer später ein, als erwartet.
Olaf räusperte sich. „Dann werde ich ihn mal suchen.“
„Tu das, mein Junge, tu das ruhig“, lächelte Helena, doch ihr Blick erzählte Olaf, dass sie in ihren Gedanken bereits woanders war.
Olaf beeilte sich nicht, als er aus dem Haus schlenderte.
Die Inspektion ihrer beider Zimmer hatte kein Ergebnis ergeben, und dennoch die Frage aufgeworfen, ob diese in ihrem gegenwärtigen Zustand verblieben, egal, was geschah.
Er konnte sich nicht erinnern, dass in seinem jemals etwas geändert worden war. Und ebenso wenig fiel ihm auch nur der Anflug einer Veränderung in Christians vier Wänden auf.
Dass ihre Eltern aus nostalgischen Gründen die Zimmer beließen, zweifelte Olaf an. Er vermutete mehr Nachlässigkeit oder den Überschuss an Räumen in diesem für sie viel zu großen Gebäude als ausschlaggebenden Faktor.
Jedoch fand er keine Spur von Christian und so ließ Olaf sich von seinem Instinkt leiten.
Das Bedürfnis, das Haus zu verlassen wuchs mit jedem Schritt, den er innerhalb dieser Mauern tat, und so hörte er auf sein Gefühl und betrat den rückwärts gelegenen Garten.
Es wurde bereits dunkel und die Kühle der anbrechenden Nacht senkte sich über ihn, auch wenn Olaf nicht wusste, ob es eine andere Art von Kälte war, die ihn frösteln ließ.
Er ging weiter, durchquerte den Garten, in den er lange keinen Fuß mehr gesetzt hatte, seit seiner Kindheit nicht.
Und dann – vom Haus aus außer Sichtweite – sah er Christian.
Der Jüngere saß auf einem hellen Mauervorsprung, einer der gartentechnischen Spielereien, die keinem Zweck dienten, sondern nur Geschmack und Reichtum des Anwesens unterstreichen sollten.
Und auf einmal erinnerte Olaf sich, dass er ihn dort schon früher gefunden hatte, als sie beide Kinder waren. Dass Christian sich dort versteckt hatte, dass dies einer seiner ersten Anlaufstellen gewesen war, wenn er fluchtartig das Haus verlassen hatte, sei es aufgrund eines harschen Wortes Hannibals oder der Nichtachtung Helenas.
Und wieder war er ihm gefolgt, wie bereits damals. Nur waren sie heute erwachsen, auch wenn es sich in diesem Moment, in diesem Garten, nahe dieses Gebäudes nicht so anfühlte.
„Hey!“
Christian sah nicht auf und Olaf schlenderte langsam näher. Erst als er beinahe vor dem Jüngeren stand, regte Christian sich.
Er hob einen Arm und beförderte eine Flasche, die bislang von seinem Körper verborgen worden war, an seine Lippen, trank in großen Schlucken, ohne von seinem Bruder Notiz zu nehmen.
Dieser wartete einen Moment, doch als Christian keine weitere Reaktion zeigte, setzte er sich neben ihn auf die Mauer.
Er deutete auf die Flasche. „Wo hast du das her?“
Christian hielt sich die Flasche vor sein Gesicht, als betrachte er sie zum ersten Mal und zuckte dann mit den Schultern.
„Ich wusste schon immer, wo er das gute Zeug aufbewahrt. Was glaubst du, wie ich die Jahre überstanden habe?“
Seine Worte klangen bereits etwas schleppend und Olaf seufzte, beschwert von der Erinnerung an einen jüngeren Christian, der betrunken, den Wagen kaputt gefahren und sich selbst in Gefahr gebracht hatte.
Er nahm Christian die Flasche aus der Hand und nach einem kurzen Zögern gab dieser den Griff auf.
Zum ersten Mal, seit er angekommen war, drehte Christian sich zu ihm und lächelte schief. „Jetzt musst du aber auch…“
Olaf schnaubte. Nichtsdestotrotz hob er den Flaschenhals an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Es handelte sich wirklich um einen fabelhaften Tropfen und Olaf ließ das Getränk genüsslich seine Kehle hinab rinnen.
Warum sollten sie sich nicht die verbleibende Zeit etwas erträglicher trinken?
Er trank ein zweites Mal,
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