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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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war, aber während keinem dieser Anlässe konnte er mehr als einen Blick erhaschen.
    Sein Ausflug in die Welt, oder – wie ihm später erzählt wurde – der Besuch einer entfernten Verwandtschaft jener, denen er diente - eröffnete ihm jedoch eine, wenn auch nur geringfügig, erweiterte Sicht.
    Er war damals mit den anderen Bediensteten in einem Nebengebäude untergebracht, das an die Ställe anschloss.
    Doch schon in der ersten Nacht wurde Ferdinand klar, dass die Regeln an diesem Ort ein wenig gelockert wurden. Selbst die erwachsenen Diener, die das Sagen hatten, stellten sich auf die neue Situation ein und genossen diese, indem sie sich an den freizügig angebotenen alkoholischen Getränken gütlich taten und ohne die üblichen, kontrollierenden Blicke auf ihn und seine Arbeit in den Schlaf der Gerechten sanken.
    Von der veränderten Luft oder vielleicht auch von der Aufregung, die das Reisen in ihm verursachte, angeregt, hielt es Ferdinand nicht auf dem aufgeschütteten Stroh, das ihm als Schlafplatz diente und schlich sich stattdessen aus dem Stall, um einem bislang selten verspürten Instinkt nachzugehen.
    Es war ihm, als fühlte er, dass an diesem Ort etwas oder jemand auf ihn wartete.
    Ferdinand huschte vorsichtig um die Gebäude, erreichte das mittig gelegene Anwesen, das verblüffende Ähnlichkeit mit dem seiner eigenen Herrschaft aufwies. Und anstatt sich demütig von den hohen, hellen Wänden abzuwenden, konnte Ferdinand nicht anders, als sich Schritt für Schritt den erleuchteten Fenstern zu nähern, die vor ihm lagen.
    In dem prachtvoll ausgestatteten Raum mit den verspiegelten Wänden und dem glänzenden Parkettboden sah er einen Jungen seines Alters, der sich vergeblich bemühte, den Tanzschritten, die ihm ein gepuderter und mit einer immens hohen Perücke geschmückter Tanzlehrer beizubringen gedachte.
    Der Junge selbst trug den mit Spitzen und funkelnden Knöpfen besetzten Frack, ohne den offenbar kein männliches Mitglied der Familie sich zu zeigen wagte.
    Er balancierte mühselig auf seinen hohen Absätzen und noch während Ferdinand gebannt, und ohne daran zu denken, dass es besser für ihn sei, Deckung zu suchen, in seine Richtung starrte, hob der den Blick von seinen Füßen und seine dunklen Augen trafen genau auf die des Jungen, der vor dem Fenster verharrte.
    Für einen Moment weiteten sie sich und der Fremde erstarrte.
    Doch noch bevor Ferdinand damit beginnen konnte, sich darüber Sorgen zu machen, ob der Lehrer oder einer der anderen livrierten und dekorativ an den Wänden stehenden Wächter aufmerksam wurden, vielleicht sogar auf die Idee kamen, Ferdinand mit mehr oder weniger überzeugend handgreiflichen Mitteln auf seinen Platz zu verweisen, senkte der Fremde den Blick und fuhr damit fort, seine unbeholfenen Schritte zu proben.
    Erst jetzt fiel es Ferdinand ein, sich ebenfalls zurückzuziehen und er verschwand übereilt in dem Schatten des Gebüschs, an dem er zuvor achtlos vorbeigeschritten war.
    Trotzdem konnte er sich noch nicht von dem Anblick trennen. Und er fragte sich, ob es daran lag, dass er zum ersten Mal jemanden in seinem Alter bei einer Tätigkeit beobachtete, die, wenn auch nicht an Arbeit, dann doch zumindest an eine seltsam aufgezwungene Form der Beschäftigung erinnerte.
    Ferdinand war sich fast sicher und seine Überzeugung wuchs, je länger er dem Jungen zusah, dass dieser sich der Mühe nicht freiwillig unterzog. Ganz im Gegenteil, er quälte sich dabei und verabscheute nicht nur die unnatürlichen Schrittfolgen, sondern auch seine Kleidung, wenigstens wenn man danach ging, wie er gelegentlich an seinem Kragen zupfte und zerrte, als fühlte er sich von ihm eingeschlossen.
    Wie er die Augen schloss und tief ausatmete, als versuche er sich zu beruhigen, sich selbst davon abzuhalten, etwas zu tun, was er später bereute.
    Ferdinand war sich keineswegs sicher, ob es sich dabei um einen drohenden Wutausbruch oder um panische Flucht handelte.
    Die vielen Wachen an den Wänden und Eingängen verrieten ihm jedoch, dass trotz der offensichtlich gehobenen Stellung, die der Fremde innehielt, keine der Möglichkeiten zu empfehlen sei.
    Ferdinand hatte sich weit genug zurückgezogen, um in der Dunkelheit der Nacht unkenntlich zu bleiben. Aber dennoch fielen ihm die Blicke auf, die der Junge wieder und wieder suchend aus dem Fenster schickte.
    Kurz nur, fast unauffällig und trainiert in ihrer Unauffälligkeit.
    Ferdinand fühlte sich an das Geschick erinnert, das er sich über

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