Ueber den Horizont hinaus - Band 1
sprach nicht, lächelte nicht, gab ihm kein Zeichen des Erkennens. Bis er plötzlich Ivans Arm drückte und ihm über das Heulen des Sturmes hinweg bedeutete, sich in Bewegung zu setzen.
Ivan gehorchte, erstaunt, vor Verblüffung regelrecht der Sprache beraubt.
Er ließ sich von dem Fremden bis zum Rand des Parks führen, über die Straße und noch ein Stück dieselbe herunter.
Mit der freien Hand öffnete der Mann die Tür zu einem Wohnhaus und Ivan schlüpfte dankbar ins Trockene.
Zum ersten Mal lachte der Mann und als Ivan aufsah, deutete er auf sein tropfendes Haar, die an seinem Körper festklebenden Klamotten.
Der Fremde schüttelte den Schirm aus und schloss ihn dann, bevor er sich entschuldigte.
„Das war nicht zum Lachen. So ein plötzlicher Guss hat jeden schon einmal überrascht. Ich bin Derek.“
„Derek“, wiederholte Ivan stumpf. „Warum …?“
Derek neigte offenkundig peinlich berührt seinen Kopf zur Seite, zuckte unbehaglich mit den Schultern.
„Ich hab dich vom Fenster aus gesehen. Du warst so vertieft, dass du nicht gemerkt hast, wie das Unwetter aufzieht. Zumindest wurde mir das klar, als du keine Anstalten unternommen hast, deine Zelte abzubrechen. Wie deine Kollegen.“
„Ich … hab an anderes gedacht.“
Derek seufzte leise. „Das versteh ich gut. Und jetzt?“
Trotz der Kühle, die ihn in der nassen Kleidung frösteln ließ, stieg Ivan leichte Röte ins Gesicht. Er räusperte sich. „Ich sollte gehen. Sobald der Regen nachlässt, muss ich den Wagen wegfahren.“
„Verstehe“, wiederholte Derek und sah demonstrativ das Treppenhaus hinauf. „Das könnte allerdings noch eine Weile dauern. Und wenn du nichts dagegen hast, dann biete ich dir gerne einen Unterschlupf an. Inklusive trockener Klamotten.“
„Wieso?“, fragte Ivan verdattert. „Wir kennen uns doch gar nicht.“
Derek lächelte. „Hattest du nicht auch schon lange das Bedürfnis, daran etwas zu ändern?“
Nun war Ivan sich sicher, dass er rot wurde. „Ich … ich weiß nicht … ich meine, du weißt nichts von mir.“
Dereks Lächeln wurde breiter. „Wenn dich das nicht stört, mich stört es sicher nicht. Die Welt ist doch nur interessant, wenn man Neues ausprobiert, fremde Leute kennenlernt, seinen Horizont erweitert.“
Ivan räusperte sich nervös. Im gleichen Augenblick durchfuhr ihn ein kalter Schauer und er fröstelte sichtlich.
Derek stellte den Schirm in einen Ständer und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Das reicht“, stellte er dann fest. „Du holst dir den Tod. Und ich habe keine Lust auf eine Leiche im Hauseingang.“ Mit diesen Worten schubste er Ivan in Richtung Treppe.
„Die ganze Polizei, Befragungen, Bestatter und Spurenermittler, die Mietgemeinschaft würde mich lynchen.“
„Das wollen wir natürlich nicht“, krächzte Ivan, und hustete trocken.
Widerstandslos ließ er sich von Derek hinauf und in eine kleine Wohnung im zweiten Stock führen. Die Wärme, die sich darin über den Tag gestaut hatte, empfände er unter anderem Umständen als störend. Im Augenblick jedoch erschien sie ihm angenehm und das Handtuch, das Derek ihm reichte, akzeptierte er dankbar, begann damit, sich die Haare zu trocknen.
Derek verschwand für einen Moment, kehrte jedoch gleich darauf mit einem trockenen Jogging-Anzug zurück, den er formlos auf der Sofalehne platzierte und sich dann demonstrativ in die Küche zurückzog, aus der bald Geräusche klangen, die auf die Zubereitung von Tee schließen ließen. Tatsächlich duftete es rasch sehr angenehm und als Ivan sich umgezogen und seine Kleidung notdürftig über die kalte Heizung gehängt hatte, trat Derek wie aufs Kommando mit einem Tablett ein.
Wortlos füllte er zwei Tassen und ließ sich dann auf dem Sofa nieder, winkte Ivan, seinem Beispiel zu folgen.
„Hast du jetzt Lust, mich kennenzulernen?“, fragte er mit einem Zwinkern in den Augen und griff nach seiner Tasse.
Ivan nickte leicht und errötete wieder. Er sah auf seine Hände, betrachtete die Schwielen auf ihnen, drehte und wendete sie vor seinen Augen. „Ich … habe eine Vergangenheit“, sagte er dann verlegen.
„Die habe ich auch“, antwortete Derek und sah Ivan über seine Tasse hinweg an.
„Ich meine …“ Ivan atmete aus und schloss seine Augen, „ich meine, dass wir verschieden sind. Vollkommen verschieden.“
Er zog seine Ärmel hoch und drehte die Innenseiten seiner Arme nach oben. Seine Haut fühlte sich immer noch kalt an, leuchtete bleich. Wie
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